Auf der Karte klingt der Name des Gerichts nicht gerade spektakulär: Bloemkool. Als das Essen aber auf dem Holztisch steht, wird aus dem Blumenkohl ein Meisterwerk an Geschmack und Farbe. Das Gemüse ist über Stunden bei niedriger Temperatur und mit ein bisschen Dampf im Ofen gegart, eingerieben immer wieder mit Vadouvan, einer französisch-indischen Gewürzmischung mit unter anderem fermentierten Zwiebeln und Knoblauchzehen. Der Kohl, mildwürzig, liegt auf einem Bett aus entwässertem Joghurt – mit einem Schuss Zitronensaft –, die die leichte Schärfe des Mango-Ketchups ausgleicht, für die wiederum fermentierte Jalapeños sorgen. Ganz oben drauf finden sich einzelne Korianderblätter und ein paar angeröstete Kürbiskerne.
Die Besonderheit an dem Gericht, das heute hier im Restaurant Instock als Hauptgang eines vegetarischen Dreigangmenüs kommt, ist der Ursprung der Zutaten: Sie wären wohl weggeworfen worden, wenn das Start-up aus Amsterdam sie nicht gerettet hätte.
Seit sieben Jahren arbeitet das Unternehmen daran, in der Lebensmittelindustrie die Zero-Waste-Idee zu verbreiten. Instock besteht heute aus einem Restaurant und einem Großhandel, der den eigenen Betrieb und Dutzende weitere gastronomische Betriebe in Amsterdam und ganz Holland beliefert.
Nachhaltigkeit durch Abfallvermeidung
Der Anstoß dazu kam ausgerechnet in einem riesigen Konzern, der Ahold-Delhaize-Gruppe, zu der mehr als 7.000 Supermärkte in den Benelux-Ländern und in den USA gehören. Instock-Mitgründerin Selma Seddik absolvierte dort nach ihrem Politik- und Management-Studium ein Trainee-Programm, zu dem zwei Stationen gehörten: „Ich habe zuerst im Nachhaltigkeitsteam gearbeitet, was mich schon immer interessiert hatte, und danach ein Jahr lang in einem Supermarkt“, sagt die 33-Jährige. Sie sitzt auf einem hohen Barstuhl an einem kleinen Tisch mitten im Restaurant, das im Osten am Rande der Amsterdamer Innenstadt liegt.
Während sie die Geschichte des Unternehmens erzählt, steht sie zwischendurch immer wieder mal auf, begrüßt den Vater der Social-Media-Mitarbeiterin, der heute hier essen möchte, tauscht sich mit dem Sous-Chef aus, holt ein Kochbuch, das Instock selbst produziert hat. Man merkt, dass ihr das Restaurant am Herzen liegt, vor allem aber kommt sie immer wieder auf die Abfallvermeidung zu sprechen, die sie in ihrem Unternehmen vorantreibt. In ihrem Konzernjob lernte sie die Lebensmittelbranche kennen, und auch zwei Zahlen, die sie immer noch erschüttern.
Keine Verschwendung und perfekter Geschmack
Selma Seddik und einige Kollegen bei Ahold Delhaize überlegen sich, wie sie das wertvolle Gut retten und daraus Produkte entwickeln können. Sie analysieren zunächst, wo sie angreifen wollen: „Knapp die Hälfte der LebensmitteI, die nicht verzehrt werden, verderben in den Haushalten, da kommen wir nicht ran. Supermärkte hingegen werfen nur zwei Prozent ihrer Produkte weg“, erzählt Selma Seddik. Die Händler haben ein so effizientes System, das dort in größeren Mengen kaum etwas zu holen ist.
Den Angriffspunkt für Zero Waste finden die Gründerinnen und Gründer daher bei den Zulieferern.
Sie entwickeln unter dem Dach ihres Arbeitgebers eine Idee für ein Restaurant, das nur Lebensmittel verwendet, die Landwirte, Groß- und Zwischenhändler sonst wegwerfen würden. „Für die Bauern zum Beispiel lohnt sich das auch deswegen, weil sie manchmal gutes Gemüse gegen Geld entsorgen müssten.“ Das kann passieren, wenn Tomaten oder Auberginen im Gewächshaus reif sind, aber keine Abnehmer da sind. Auch nicht ganz perfekt gewachsene Möhren mit zwei Beinen oder anderen Verwachsungen oder sehr krumme Gurken schaffen es nicht in die Supermärkte. Die Kunden wollen perfektes Gemüse, auch wenn der Geschmack immer derselbe ist.
Selma Seddik und zwei Kollegen und Kolleginnen gewinnen mit der Idee einen Innovationswettbewerb ihres Arbeitgebers, konzipieren unter dem Dach des Konzerns zunächst ein Pop-up-Restaurant, fahren mit einem Foodtruck auf Festivals, eröffnen dann das richtige Restaurant. Im Jahr 2019 schließlich machen sich die Gründerinnen und Gründer selbstständig mit ihrem Konzept. Um das Abfallthema ganzheitlich anzugehen, baut Instock in der Folge einen Großhandel auf, der in einem Gewerbegebiet im Westen Amsterdams liegt.
Günstiger einkaufen dank Zero Waste
In einer mit Holzwänden unterteilten Halle – es ist reichlich Platz für Wachstum – lagern palettenweise Kürbisse, Möhren oder Auberginen, die einen haben einen Fleck, die anderen sind verbogen, wieder andere zu klein. Nicht verkauftes Fleisch frieren die Instock-Mitarbeiter kurz vor der Ablauffrist ein und dürfen es so noch drei Monate lang verkaufen. 75 bis 200 Köche ordern dort jede Woche per Webseite die Produkte, die teilweise nur einen Tag dort liegen und dann per Elektrofahrrad oder E-Auto ausgeliefert werden. Manche der Restaurants bestellen regelmäßig, andere ab und zu, um in ihren Restaurants Zero-Waste-Angebote machen zu können – und um Kosten zu sparen.
Denn die geretteten Lebensmittel liegen meist 30 Prozent unter den gewohnten Preisen.
Das gute Gewissen und die günstigen Einkaufspreise kommen allerdings mit dem gelegentlichen Verzicht auf Vielfalt. Denn bei gerettetem Essen ist oft vorher nicht klar, was im Lager ist. Sem De Jonge ist das völlig egal. Er ist seit sechs Wochen Chefkoch im Amsterdamer Instock-Restaurant und hat aus der zugebenermaßen kleinen Not – denn die Auswahl ist recht umfassend – eine Tugend gemacht. Er ist ein Meister der Weiterverarbeitung, der aus dem, was da ist, etwas Neues kreiert. Lauch zum Beispiel, verarbeitet er durch dreitägiges Einkochen zu einer veganen Bratensoße. „Einige Köche, denen ich das bei einem Tasting vorgesetzt habe, fragten, ob das vom Rind stammte, so intensiv schmeckte das“, sagt Sem De Jonge. So etwas macht ihm am meisten Spaß: eine Geschichte zu erzählen.
Ideen und Optimismus – trotz Corona
Sem De Jonge kocht für alle, wie er sagt, denn gutes Essen sei eine Erfahrung, die möglichst viele Menschen machen sollten. „Und wir müssen ihnen etwas bieten, denn sie geben ihr Geld aus, um etwas Besonderes zu erleben.“
Apropos Einnahmen, das Restaurant in Amsterdam ist profitabel, sagt Gründerin Selma Seddik. Geld verdient das Unternehmen unter anderem auch mit Bieren, die aus Brot- bzw. Kartoffelresten von einer Brauerei für Instock produziert werden. Der Großhandel, der als eigene Geschäftseinheit geführt wird, läuft ebenfalls gut, auch wenn Instock wegen Corona Rückschläge hinnehmen musste. Selma Seddik ist deshalb optimistisch, „weil Zero-Waste-Konzepte die Zukunft sind“.
Ihr Restaurant spiele dabei eine wichtige Rolle, denn die Gäste können hier gleich zwei wichtige Dinge verbinden, das Nützliche und das Angenehme: Sie sind daran beteiligt, die unsinnige Lebensmittelverschwendung zu verringern – und können dabei hervorragende Speisen genießen.
Sem De Jonge sieht es genauso und betont, wie wichtig letztlich die Details sind. „Ich spreche gerne mit unseren Gästen, erzähle ihnen, wie wir bestimmte Speisen kochen, wie wir Confits machen, Fermentation, Einkochen und Einfrieren nutzen, um die Rohstoffe zum Teil einfach auch länger haltbar zu machen.“
Vor allem aber setzt er diese Techniken ein, um aus einfachen Gemüsen komplexe Geschmäcker herauszukitzeln, sie perfekt zu balancieren. „Wir müssen dabei immer sehr clever sein, um etwas Besonderes zu erzeugen.“ Er macht eine kleine Pause. „Auch wenn das vielleicht ein wenig pathetisch klingt: Letztlich kommt es auf Kreativität und Hingabe in der Küche an.“