Nicht, dass das Baskenland niemand kennt. Im Gegenteil: Heute gilt dieser idyllische Landstrich Spaniens an der atlantischen Küste reisefreudigen Gourmets geradezu als Wallfahrtsort. Restaurants wie das Arzak, das Akelarre, das Mugaritz oder das Etxebarri beweisen das durch ihre alljährlichen Sterne und Rankingpositionen zu Genüge.
Das spanische Küchenwunder
Aber: Die wenigsten wissen, dass das berühmte spanische Küchenwunder genau hier seinen Anfang nahm. Das liegt unter anderem daran, dass die spanische Spitzenküche bis heute mit dem Schlagwort der Molekularküche in Verbindung gebracht wird. Und diese hatte Mitte der 1990er schließlich ihre Hochburg nicht im Baskenland, sondern in Katalonien, genauer gesagt an der Costa Brava, wo das legendäre ElBulli unter Ferran Adrià zum kulinarischen Epizentrum der Welt wurde. Das stahl dem Baskenland, man kann es nicht anders sagen, ein wenig die Show.
Denn so sehr das spanische Küchenwunder auch mit Molekularküche à la Adrià in Verbindung gebracht wird – ohne die Nueva Cocina Vasca, also die Neue Baskische Küche, hätte es sie nie gegeben. Und so begann der Aufstieg Spaniens in den Gastronomie-Olymp in Wahrheit nicht erst in den 1990ern, sondern bereits 20 Jahre davor. Also Mitte der 1970er-Jahre, als die damals noch jungen Herdrevoluzzer Juan Mari Arzak und Pedro Subijana nach Frankreich gingen, um von Paul Bocuse und anderen Großmeistern der Grande Nation in die Geheimnisse der französischen Nouvelle Cuisine eingeweiht zu werden.
Zurück in ihrer Heimat interpretierten Arzak, Subijana und Co. die baskische Traditionsküche neu – und setzten damit den Grundstein für die bis heute anhaltende spanische Erfolgsstory. Kurz: Diese Geschichte ist lang, sehr lang. Und doch hat sie über all die Jahre ein ganz bestimmter Koch ununterbrochen geprägt wie kaum ein anderer: Der Baske Martín Berasategui.
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Zeiten des Aufbruchs im Baskenland
Zahlreiche Restaurant, zwölf Sterne im Guide Michelin, Ehrendoktortitel, Verdienstmedaillen – die Zahl an Preisen und Orden, die dem Großmeister in den vergangenen Jahrzehnten zuteilwurden, sind kaum zu überblicken. Fest steht: Er ist der höchstdekorierte Koch Spaniens und auf eine ganz bestimmte Art und Weise der einflussreichste noch dazu. Warum genau? Was macht den heute 63-Jährigen zu einem solchen Giganten der Nueva Nouvelle Cuisine? Und wie hat alles begonnen?
Zunächst einmal: Martín Berasategui ist nicht die Einzelperson Martín Berasategui – darauf besteht er. „Mein ‚Ich‘ besteht aus einem großen, baskischen ‚Wir‘: Die Fischer, die gerade die Netze auswerfen, der Schäfer auf der Weide, der Viehzüchter im Stall, der Bauer auf dem Hof, der Imker mit dem Honig. Wir haben hier im Baskenland so unglaublich großartige Produkte von großartigen Menschen. Es fühlt sich für mich unfair an, nur über mich zu sprechen. Ich bin nichts ohne mein Land!“
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Und auch ohne seine Familie, wie Martín Berasategui mehrfach betont. Tatsächlich ist sein Werdegang ohne Familie kaum denkbar. 1960 in San Sebastián geboren, begann der junge Martín bereits mit 14 im elterlichen Restaurant, dem Bodegón zu arbeiten. „Ich empfinde es bis heute als großes Glück, bei meinen Eltern und meiner Tante im Restaurant gelernt zu haben“, erinnert sich Berasategui. „Sie haben alle an den Erfolg durch Teamarbeit geglaubt und dadurch die Grundlage dafür geschaffen, was man später die Neue baskische Küche nennen sollte. Ich erinnere mich bis heute an all die Konditoren, Bäcker, Eismacher, Metzger und alle anderen Menschen, die mit Leib und Seele für ihren Beruf brannten, in diesen Zeiten des Aufbruchs. Von ihnen allen habe ich unglaublich viel gelernt.“
Und doch: Der junge Martín Berasategui wollte mehr. Also ging er während der Ferien, und oft auch während seiner freien Tage, über die Grenze nach Frankreich, um dort die neuesten Techniken zu lernen. „Da habe ich gemerkt, dass es bei uns zu Hause noch einiges zu tun gibt“, bringt er diese prägenden Erfahrungen auf den Punkt. Mit gerade einmal 20 übernahm er die Küchenleitung des elterlichen Betriebs und ließ damit seinem Ehrgeiz freien Lauf. So sehr, dass er fünf Jahre später das nahezu Unvorstellbare schaffte – und einen prestigeträchtigen Michelin-Stern erhielt.
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Bei Martín Berasategui gibt’s auch à la carte
Heute nennt Berasategui diesen Stern „die Grundlage meines Mutterhauses.“ Und meint damit sein 1993 eröffnetes Flagship-Restaurant in Lasarte-Oria, einem kleinen Ort unweit von San Sebastián.
Zu dieser Zeit hatte das spanische Küchenwunder bereits an Fahrt aufgenommen, die Molekularküche war in aller Munde. Doch während die gesamte spanische Gastronomie damit begann, avantgardistisch-abenteuerliche Menüspektakel zu servieren und die Vermessung der menschlichen Geschmacksgrenze auf die Spitze zu treiben, schwamm Berasategui damals schon gegen den Strom.
Gerichte als essbare Kunstinstallationen waren nicht seine Sache. Und auch heute kann man in seinem nach ihm benannten Restaurant problemlos à la carte bestellen, was bekanntlich keine Selbstverständlichkeit in spanischen Drei-Sterne-Restaurants ist. Doch seine produktfokussierte Küche mit ausbalanciertem Sinn für Innovation, die seit jeher auf Geräte von RATIONAL baut, zog dennoch ihre Kreise. Und wie! Da ist beispielsweise sein bis heute legendäres Millefeuille mit geräuchertem Aal, Foie Gras und karamellisiertem grünen Apfel. Oder Austern mit Gurke, sauren Früchten, Kefir und Kokosnuss. Oder die Meeräsche mit essbaren Fischschuppen, Sojasprossen, Grieß und Tintenfisch. Ganz zu schweigen von unzähligen Variationen rund um die Kiembacken des Kabeljaus.
Martín kocht mit Leidenschaft. Mit Hingabe – für die Produkte und für die Menschen. Das sieht und schmeckt man. Allen voran ist er aber wie er mehrfach betont dankbar. Dankbar dafür scheinbar Unerreichbares erreicht zu haben, einen Beruf zu haben der ihm Freude macht, sein Wissen an die Nachwuchsköche weitergeben zu können und eine Familie zu haben, die ihm den Rücken freihält, ihn unterstützt und liebt.
Martín Berasategui nächster Halt: Dubai
All das führte 2002 zum dritten Michelin-Stern, den Berasategui seither erfolgreich verteidigt. Als wäre das allein nicht schon Sensation genug, eröffnete der unternehmenslustige Kreativkopf bis heute zahlreiche weitere Restaurants, etwa in Barcelona, in Bilbao, auf Ibiza, auf Mallorca, in Lissabon.
Die tiefe Verbundenheit und Dankbarkeit, die Martín gegenüber seiner Familie und seinem Umfeld empfindet, zeigt sich auch in den Namen seiner Restaurants. „Alle Namen der Restaurants, die ich habe, haben etwas mit Dingen zu tun, die mein Herz berühren, zum Beispiel das Martín Berasategui, das ich am 1. Mai eröffnet habe. Ich habe denselben Namen wie mein Vater, den ich schon vor langer Zeit verloren habe“, meint der Küchenchef zur Namensgebung.
Und Ende 2023 folgt auch schon das nächste in Dubai. Auch dieses wird einen besonderen Namen tragen: Jara Martín Berasategui. „Jara ist der Name meiner Enkelin, die zwei Jahre alt ist. Es heißt also Jara und der Name des Großvaters, aber nicht ich, sondern der andere Großvater.“
Wenig verwunderlich also, dass Berasategui nicht viel von Ruhestand hält. „Ich werde nie jemand sein, der einfach nur herumsitzen kann,“ sagt er.
Sein ungebrochener Tatendrang und seine positive Einstellung offenbart eine erfrischende Zuversicht. Denn Martín Berasategui ist sicher: „Die jungen Leute von heute sind die beste Generation, die es jemals in der Küche gegeben hat. Sie sind alle gebildet, sprechen teilweise mehrere Sprachen, wissen, was sie wollen. Wir alle müssen diesen jungen Leuten applaudieren. Und vor allem: Wir müssen ihnen alles beibringen, was wir selbst können und wissen. Die Zukunft des Kochens liegt in ihren Händen!“ Hände, die das spanische Küchenwunder auch in den kommenden Jahrzehnten hochhalten werden. Nach baskischer Tradition, versteht sich.