Die ganze Nose-to-tail-Sache ist bekanntlich nichts Neues. Der Grundsatz, dass nicht nur ein Filet, sondern das gesamte Tier ein Edelteil ist, wird schließlich seit geraumer Zeit in jeder Küche hochgehalten, die etwas auf sich hält. Eines nur ist erstaunlich: Echte Nose-to-tail Restaurants gibt es wenige. Also solche, in denen sich alles um ein einzelnes Tier dreht – von der Schnauze bis zum Schwanz, wie man auf Deutsch sagen würde. Dabei wäre doch ein solches Konzept am Puls der Zeit – oder?
Nose-to-tail Konzepte sind nicht nur nachhaltig, sondern erfüllen auch moralische Grundsätze, indem kulinarisch gesehen dem gesamten Tier gehuldigt wird. Außerdem ist es unter betriebswirtschaftlicher Perspektive nicht uninteressant: Der Wareneinsatz vieler derartiger Gerichte ist verhältnismäßig niedrig. Dagegen ist der Gast für dieses Handwerk durchaus einen anständigen Preis bereit zu zahlen. Einfach, weil man so etwas nicht überall bekommt – und zu Hause nur schwer nachkochen kann.
A Casa do Porco – das beste Restaurant Brasiliens
Genau das dachten sich auch Janaína und Jefferson Rueda. 2015 eröffneten sie in São Paulo, Brasilien, das A Casa do Porco. Ein Restaurant, in dem es ums Schwein geht. Und zwar nur ums Schwein. In all seinen Facetten. Oder eben all seinen Teilen. Schweinsbacken-Sushi, Tatar mit schmelzendem Schweinsknochenmark, Schweinegrieben mit Guave, Spanferkelzunge … so gut wie jeder Teller widmet sich dort auf kreative Art und Weise dem Borstenvieh. Und das mit einem Erfolg, den die Ruedas nie erwartet hätten. Heute rangiert das A Casa do Porco auf Platz 7 der World’s 50 Best Restaurants. Als Nummer vier der Latin Americas 50 Best Restaurants gilt es – ganz ohne Michelin-Stern – gar als bestes Restaurant Brasiliens. Das liegt auch daran, dass es dort eigentlich um mehr geht als nur ums Schwein.
Nose to tail liegt in der Familie
„Ursprünglich hatten wir vor, eine Metzgerei zu eröffnen“, erinnert sich Janaína Rueda.Damals war Jefferson ihr Mann, heute sind sie geschieden, aber weiterhin Geschäftspartner. Zusammen mit ihm hatte sie davor schon gastronomische Erfahrungen gesammelt. Unter anderem im São Pauloer Restaurant Bar da Dona Onça. „Jefferson ist gelernter Metzger“, erklärt sie, „und so hielten wir es für die vernünftigste Idee, unser erstes gemeinsames Projekt auf Nummer sicher zu gestalten. Aber während der Planungsphase kamen immer mehr Ideen – und irgendwann bekamen wir diese Sache mit dem Restaurant nicht mehr aus dem Kopf.“ Janaína erinnerte sich an ihre Urgroßeltern auf dem Land, die ihre Schweine oft selbst zerlegt hatten. „Ich kenne bis heute die meisten Cuts durch sie“, sagt sie.
Jefferson hingegen hatte von frühester Kindheit gelernt, wie man ein sogenanntes Porco a Paraguaia zubereitet, also ein ganzes Schwein – meist kräftig mariniert – über dem Grill nach brasilianischer Art. Und dass ein gelernter Metzger auch in Sachen Cuts sein Handwerk beherrscht, versteht sich von selbst. Also eröffneten sie nach reiflicher Überlegung ihr erstes gemeinsames Restaurant – und hatten von Anfang an eine ganz bestimmte Vision. Eine, die bis heute ungewöhnlich ist.
Essen im A Casa do Porco: Nose-to-tail-Schnäppchen
Diese lautete: Kreative Gerichte vom Schwein. Ehrlich, authentisch und für jedermann. „Uns war von Anfang an klar, dass wir ein Restaurant machen wollen, das sich jeder leisten kann. Wir sind kein elitärer Fine-Dine-Tempel, sondern ein kulinarischer Treffpunkt für alle“, sagt Rueda. Und tatsächlich: im A Casa do Porco sitzen Familien, Studierende, Pensionisten, Touristen – aber natürlich auch weitgereiste Foodies.
Viele davon reiben sich beim Blick auf die Preise die Augen vor Verwunderung: Das 15-Gänge-Tasting-Menü kostet gerade einmal 40 Euro. Viele À-la-carte-Gerichte keine 10 Euro. „Wir sind das günstigste Restaurant in der World’s 50 Best-Liste“, sagt Janaína Rueda, die vor kurzem mit ihrem Team alle Preise der in der Liste vorkommenden Restaurants verglichen hat. Gerade aus europäischer Perspektive schrillen bei solchen Aussagen oft die Alarmglocken. Wo ist der Haken? Liegt es vielleicht daran, dass die Ruedas auf Billigfleisch setzen? Wird hier überhaupt vernünftig gewirtschaftet?
Spoiler: Es gibt keinen Haken. Die angeschlossene Bar, die mit einer Vielzahl an Cocktails einlädt, ist ohne Zweifel ein zusätzlicher Umsatzbringer. Und natürlich sorgt auch die hohe Auslastung dafür, dass die Preise in Zeiten von Teuerungen verhältnismäßig niedrig bleiben. Und so günstig das Schwein hier auch sein mag – das schlechte Gewissen, das in solchen Fällen schnell einmal mitisst, hat im A Casa do Porco nichts verloren.
Das A Casa do Porco als Nose-to-tail-Konzept mit Gemüsefarm
Denn rund drei Autostunden vom Restaurant entfernt betreiben die Ruedas eine Farm, auf der unterschiedlichste Rassen an Freilandschweinen grasen. „Jede Rasse eignet sich für unterschiedliche Gerichte oder Zubereitungsweisen“, erklärt Rueda. „Von der Nilo-Rasse beispielsweise schmeckt der Lardo und der Kopf, den wir als Einzelteil servieren, am besten. Das im Ganzen gegrillte Schwein machen wir meist aus der Sorocaba-Rasse. Aber wir halten auch Duroc, Moura und einige andere Kreuzungen.“ Und dann gibt es da auch noch die Gemüsefarm. Ganz ohne Schweine. Hier muss Janaína Rueda kurz ausholen. Denn dass ausgerechnet ein Nose-to-tail-Konzept eine Gemüsefarm betreibt, hat einen ganz bestimmten Grund.
Das A Casa do Porco ist das Aushängeschild einer neuen Generation
„Im gleichen Gebäude, einen Stock über uns, ist eine Tierschutzorganisation eingemietet, die sich für Vegetarismus stark macht“, verrät Rueda und kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Wir haben das 2018 zum Anlass genommen, unsere Philosophie, die das Restaurant als etwas Verbindendes sieht, zu erweitern. Und zwar in Form eines vegetarischen Menüs. Seither verstehen wir uns sehr gut mit unseren Nachbarn – und wir haben mittlerweile auch vegetarische Stammgäste!“
Es ist dieses vereinende Verständnis von Gastronomie, das Rueda antreibt – und dafür sorgt, dass sie noch Großes vorhat. So will sie bald eine Akademie gründen, in der jungen Menschen der kulinarische Reichtum Brasiliens nähergebracht wird. „Brasilien ist so ein riesiges Land mit einer unglaublichen Diversität an Lebensmitteln und Küchentraditionen. Ich möchte, dass die Welt mehr über Brasilien weiß!“
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Man denkt bei solchen Sätzen unweigerlich an Alex Atala, der in seinem legendären Restaurant D.O.M. nur fünf Kilometer vom A Casa do Porco entfernt die brasilianische Küche revolutionierte. Und damit vor rund zwanzig Jahren dafür sorgte, dass Brasilien eine gastronomische Strahlkraft entwickelte. Es sei Zeit für die nächste Generation, meinte er vor Kurzem zu KTCHNrebel. „Wir sind die neue Generation“, versichert Janaína Rueda.