Portugal und Österreich, das sind in unserer Vorstellung zwei völlig unterschiedliche Länder. Endlose Sandstrände am türkisen Atlantik da, tiefe Täler inmitten verschneiter Alpen dort. Und doch: In spitzengastromischer Hinsicht sind diese beiden Nationen, die über 2.000 Kilometer voneinander entfernt liegen, eng miteinander verbunden. Der Vorarlberger Dieter Koschina und der Tiroler Hans Neuner haben in den vergangenen 15 Jahren die portugiesische Fine-Dine-Landschaft geprägt wie nur wenige Portugiesen vor ihnen.
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Gerade einmal zehn Kilometer voneinander entfernt betreiben die zwei Österreicher mit ihren Gourmettempeln an der idyllischen Algarveküste zwei der absoluten Top-Adressen der iberischen Halbinsel. Vor allem aber Hans Neuner gilt mit seiner leichten, virtuos-verspielten Saisonküche seit Jahren als seriöser Anwärter auf den dritten Stern. Doch nicht nur das unterscheidet ihn von Koschina und allen anderen Herdkollegen Portugals. Hinzu kommen: Seine Hyperaktivität. Seine Rastlosigkeit. Und seine unverwüstliche Abenteuerlust. Diese stellte er kürzlich eindrucksvoll unter Beweis, indem er sich auf die Spuren des portugiesischen Seefahrers Vasco da Gama begab.
Der Küchenchef des Ocean Restaurants machte dabei an denselben Stationen halt wie damals, Ende des 15. Jahrhunderts, der sagenumwobene Entdecker des Seewegs nach Indien: Cape Verde, Ghana, Oman, Mosambik und schließlich Goa. Hans Neuner als kulinarische Reinkarnation des portugiesischen Seefahrers also. Aber wozu? Hat er doch jederzeit alles vor der Haustür, was sein produktfetischistisches Kochherz begehrt! 730 Hektar hoteleigenes Land- und Weingut samt eigener Viehzucht, mehrere 100 Quadratmeter hauseigene Gemüseplantage, vom endlosen Meer mit all seinen Meeresbewohnern ganz zu schweigen. Was treibt diesen rastlosen Spitzenkoch an? Wer ist er, dieser Hans Neuner? Und was plant das nimmersatte Energiebündel in Zukunft.
Der Sonne hinterher
Blicken wir zuerst in den Rückspiegel: „Als Koch“, pflegten Hans Neuners Eltern zu sagen, „kannst du die Welt sehen und findest immer einen Job“. Der Sohn eines Tiroler Gastronomenpaares machte also seine Lehre im Gourmetrestaurant des Alpenkönig-Hotels in Seefeld. Vom Küchenchef abwärts hatten Neuners Respektspersonen alle in Eckart Witzigmanns Aubergine gearbeitet. „Dort hab ich unbestritten wirklich sehr viel gelernt“, erinnert sich der heute 46-Jährige. Das war Anfang der 1990er. Zu einer Zeit, als in den gehobenen Küchen des Landes noch ein anderer Wind wehte. Lautes Geschreie. Viele Überstunden – und zwei Ohrfeigen, an die sich Neuner noch immer erinnert. Ohne Groll zwar, das entspricht nicht seinem Naturell.
Aber auch nicht ohne Kritik: „Da ist zu lange zu viel schiefgelaufen. Heute hat sich in den Küchen zum Glück vieles verändert.“ Für den jungen Neuner jedenfalls stand fest: Nach der Lehre zieht er weiter. Er kochte in der Schweiz, in England, auf den Bahamas. Und natürlich, wie es sich für einen Abenteurer gehört, auf dem Kreuzfahrtschiff. Bis er 1999 zur Brigade von Karlheinz Hauser im Hotel Adlon stieß. In Hauser fand der gerade einmal 23-jährige Hans einen Mentor, der ihn forderte und förderte. Als Hauser sich in Hamburg mit dem Süllberg selbstständig machte, vertraute er Neuner die Position des Küchenchefs des Gourmetrestaurants an, dem Seven Seas. „Ich helfe dir drei Monate mit dem Süllberg“, sagte Neuner, „und du organisierst mir irgendwo auf der Welt den nächsten geilen Job“. Aus den drei Monaten wurden fünf Jahre. Bis plötzlich alles sehr schnell ging.
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Mit Chaos zu den Sternen
Während eines Caterings auf der Hamburger Internorga-Messe bekam Neuner Wind vom Ocean Restaurant im portugiesischen Porches. Man sei auf der Suche nach einem neuen Küchenchef. Neuner telefonierte mit Kurt Gillig. Auch ein Österreicher, damals F&B-Direktor, heute General Manager des gesamten imposanten Vila Vita Resorts. Das Ocean ist übrigens nur eines – wenn auch das beste – von zwölf Restaurants dort. Neuner jedenfalls sah sich die Bilder des Restaurants an. „Als ich den Panoramablick aufs Meer sah, dachte ich mir: Scheiß drauf! Ich fahr da runter und schau mir das an. Das Wetter in Hamburg hatte ich sowieso schon längst satt.“ Das war zwei Wochen vor der Eröffnung des Ocean.
Doch Zeitdruck macht nicht nur in der Küche erfinderisch. Um so schnell wie möglich aus Hamburg raus zu kommen, stellte der Noch-Seven-Seas-Chef kurzerhand all seine Habseligkeiten aus seiner Wohnung auf den Gehsteig – zur freien Entnahme. Er erinnert sich: „Innerhalb von ein paar Stunden war alles weg. Das einzige, was ich nach Portugal mitnahm, waren meine Kochbücher, meine Kochmesser und ein paar Klamotten. Und natürlich meine Freundin. “Das sollte reichen.“
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Das Ocean Restaurant entwickelte sich binnen kürzester Zeit zu einem Leuchtturm der portugiesischen Fine-Dine-Szene. Ein bisschen zu schnell, wenn man Hans Neuners Erzählungen glaubt: „Zwei Leute habe ich für die Küche noch schnell auftreiben können, meine Freundin hat auch mitgeholfen. Nachdem das Geschirr noch nicht da war, haben wir die Pizzateller vom Nachbarsrestaurant gemietet. Es war das reinste Chaos.“ Zwei Jahre später, im Jahr 2009, erhielt das Ocean Restaurant seinen ersten Michelin-Stern. Im selben Jahr wurde Hans Neuner vom Gault&Millau zum Koch des Jahres gekürt. Seit 2011 zeichnet der Guide Michelin Neuners Küche mit zwei Sternen aus, von all den anderen internationalen Auszeichnungen ganz zu schweigen. In der Hochsaison, von März bis Oktober also, arbeiten heute bis zu 15 Köche aus allen Ecken der Welt im Ocean. Während der Großteil von Neuners Kollegen unter dem Fachkräftemangel leidet, erhält seine Top-Adresse jährlich rund 200 Bewerbungen. Klar, die Location an der Algarve gibt etwas her. Doch Neuner hat mit seiner vorwärtspreschenden Küche und seiner daraus resultierenden medialen Präsenz entscheidend zum Ruf des Ocean als Talenteschmiede beigetragen. Wer mit Hans Neuner kocht, der weiß: Mit einer solchen regionalen Produktvielfalt arbeiten selbst die berühmtesten Dreisterner nicht. Und vor allem: Ganz gleich, was heuer gekocht wird – nächstes Jahr ist wieder alles anders…
Portugiesische Küche 2.0
Apropos: Neuners aktuelles Abenteuer begann mit Corona. Während des ersten Lockdowns beschloss er, durch Portugal zu reisen. Nicht, um sich selbst zu finden, sondern neue Produkte. Er half bei Reisfarmen und Teeplantagen mit, entdeckte lokale Spezialitäten neu. Und entwickelte daraus im Sommer 2020 schließlich sein „Roadtrip to Portugal“-Menü. Das kam dermaßen gut an, dass Mr. Ocean im Jahr darauf einen Schritt weiterging: Jetzt waren die portugiesischen Inseln dran. Madeira, San Miguel, Terceira – jeder Gang des Menüs wurde von einer der paradiesischen Inseln am äußersten Ende Europas inspiriert.
Eigentlich logisch, dass Neuner für das diesjährige Menü erneut einen draufsetzte: Das „Route to India“-Menü ist ohne Zweifel der vorläufige Höhepunkt des kochenden Seefahrers. „Wir haben uns mit Historikern zusammengesetzt, die haben uns genau erklärt, wo wir warum hin müssen, damit unsere Route auch derjenigen der portugiesischen Entdecker entspricht“, plaudert er quasi aus dem Logbuch. Von Cap Verde bis nach Goa studierte Neuner über Wochen hinweg die jeweiligen Nationalgerichte. Er aß in einfachen Snackbuden, „kochte mit den Mamas“, wie er sagt. „Erst, wenn ich ein Gericht wirklich verstanden habe, kann ich im Restaurant dann meine eigene Interpretation daraus machen.
“Mithilfe von Tintenfisch-Bottarga aus Cap Verde über die Jamswurzel aus Ghana bis hin zur Mungbohne aus Goa holt Neuner das Zeitalter der portugiesischen Entdeckungsreisen in die Jetztzeit – und erweitert damit die portugiesische Küche um längst vergessene Aromenwelten. Nach dieser Saison sind übrigens Portugals ehemalige Kolonien an der Reihe. So viel kann Hans Neuner jedenfalls schon verraten: „Für Brasilien werden wir uns viel, sehr viel Zeit nehmen müssen.“