Im ersten Trend Talk-Webinar von Rational zum Thema virtuelle Küche haben wir den amerikanischen Foodservice-Berater Joseph Schumaker FCSI, Gründer und CEO von FoodSpace, nach seiner Einschätzung zu den vermeintlichen Kompromissen gefragt, die die Kunden bei der Wahl zwischen dem Erlebnis in einem richtigen Restaurant und dem Komfort des Lieferservice eingehen müssen. Schließt das eine das andere in jedem Fall aus? Schumaker entgegnete, dass „die Menschen immer ein wenig Erfahrung für mehr Bequemlichkeit opfern“ würden, war aber überzeugt, dass sich die Betreiber letztlich kreativ zeigen müssen, um das Erlebnis beim Lieferservice zu steigern. Bleibt also die Frage: Können die Lieferdienste und die dazugehörigen virtuellen Küchen dieses hartnäckige Dilemma lösen und das Kundenerlebnis qualitativ steigern, ohne die Annehmlichkeiten des superschnellen Service aufzugeben?
Der Beraterkollege William H. Bender FCSI, Gründer und Chef von W.H. Bender & Associates, ist der Ansicht, es „braucht keine Kompromisse“, was das Kundenerlebnis beim Lieferservice von Gerichten aus der virtuellen Küche anbelangt, solange man bestimmte wesentliche Aspekte beachtet. Ausschlaggebend für ein hochwertiges Kundenerlebnis beim Lieferservice sind für Bender folgende Faktoren: einfache Bestellvorgänge, Informationen des Anbieters sowie Präsentation des Speiseangebots (Aufbau der Speisekarte) mit allen notwendigen Infos und Daten; Empfang der Kunden nach dem anerkannten ServPoints™ Sequence of Service (Serviceablauf), der vom Vertreter des Unternehmens bei der Auslieferung genau befolgt wird (einschließlich der Formel „Danke, dass Sie unser Gast sind“); die Unternehmensvertreter treten in „makelloser Firmenkleidung mit professioneller Körperpflege“ auf; Genauigkeit bei der Bestellung (die Bestellung sollte bei der Übergabe vorgelesen werden); ordentliche Verpackung aller Waren einschließlich Tragetasche oder Karton; Vollständigkeit und Überprüfung der Bestellungen; Sonderwünsche müssen aufgenommen, weitergeleitet und umgesetzt werden; Zeitabläufe und Temperatur der Speisen müssen stimmen; die Rechnung ist auf dem Bestellschein oder auf der Rückseite angeheftet und enthält Angaben zur Person, die die Bestellung verpackt hat; firmeneigene Hinweise zum Aufwärmen und andere Marketingmaterialien werden mitgeliefert. „Bei gut funktionierender Führung und richtiger Anwendung von ServPoints™ auch von virtuellen Küchen ist das ,Kundenerlebnis‘ im Lieferservice bequem“, so Bender. Nur dann könne jenes Ziel erreicht werden, von dem auch in dem wegweisenden Buch The End of Marketing As we Know It von Zergio Zyman die Rede ist: Jede Restaurantlieferkette ist „anders, besser und besonders“.
Auf den Mehrwert kommt es an
Der Berater Rudy Miick FCSI, Gründer und Präsident von The Miick Companies, LLC, meint ebenso wie Bender, dass Kompromisse nicht nötig sind, betont aber auch, dass in Sachen verbessertes Kundenerlebnis beim Lieferservice noch viel Luft nach oben ist. „Auf die Schnelle würde ich das auch verneinen. Vielmehr hat der Lieferservice das Potenzial, einen Mehrwert zu schaffen und das Erlebnis der Gäste bzw. Kunden zu bereichern. Aber leider fällt der Aspekt des Mehrwerts – der Erlebnisaspekt – häufig negativ aus“, so Miick. „Lieferservice ist bequem. Schließlich werden uns die Lebensmittel bis an die Haustür geliefert. Aber welchen Preis bezahlen wir für diese Bequemlichkeit? Für mein Wunschessen muss ich nirgendwo hinfahren, hinlaufen oder mich sonst wie anstrengen. Das ist toll. Und bequem. Die Frage ist aber: Wie schlecht ist das Essen oder wie unhygienisch die Lieferung bei der Übergabe? Für Miick besteht die Schwierigkeit des Dilemmas „Wert oder Erlebnis“ darin, die Bestellung so zum Kunden zu bringen, dass warmes Essen warm bleibt und gekühlte Speisen kühl, dazu „verpackt nach eigenem Standard, der gleich oder besser ist, als man es im Restaurant oder Laden bekommen würde“. Die Chancen für die Betreiber von virtuellen Küchen liegen für Miick in all dem, was wir in der Corona-Pandemie gelernt haben: „Meine Marke ist mir heilig. Wie verpacke ich ein Produkt so, dass es sich gut transportieren lässt und genauso lecker ist wie im Restaurant? Darauf kommt es an! Diese Maßnahmen sind eine Entscheidung und eine Investition in das eigene Geschäft: sich ausreichend sorgfältig um die eigene Marke zu kümmern, um sowohl ein Erlebnis als auch Komfort zu bieten. Eine sehr gute Lieferung, bei der alle Merkmale wie Qualität, Verpackung und Erlebnis stimmen und ein Preis für diese Lieferung hinzukommt, stellt einen Wert dar. Wie bei allem wird der Wert erkannt und immer mehr geschätzt, wenn er konstant ist.“ Für Miick ist der Faktor Ghost Kitchens hier letztlich „irrelevant“, denn „das Essen könnte von einem Caterer, einer virtuellen bzw. Großküche oder einem Restaurant stammen“. Stattdessen sollte der Schwerpunkt einfach auf der „Qualität des Produkts, der Produktverpackung und des Liefererlebnisses liegen – selbst das Lieferpersonal oder -Fahrzeug hat Einfluss auf das Erlebnis. Das Lokal ist irrelevant, nur ein Vorwand“, so Miick.
Wichtige Schnittstellen
Arlene Spiegel FCSI, Präsidentin von Arlene Spiegel & Associates, Inc, beschreibt das Lieferservicemodell als „eine Reise, auf der viele Kontaktpunkte über Erfolg oder Misserfolg“ des Kundenerlebnisses entscheiden können. „Zu Beginn der Reise steht der bequeme Zugang zum Angebot, z. B. per App bzw. mobiles Gerät, die Website des Anbieters, per Telefon oder sogar über einen QR-Code auf einer Postkarte“, erklärt sie. „Die nächste Station ist der Bestellvorgang, vor allem der Aufbau und die Darstellung der einzelnen Gerichte mit Beschreibung, Änderungsmöglichkeiten und Preisen. Dann folgt die Kommunikation unterwegs mit einer Eingangsbestätigung des Foodservice-Anbieters per E-Mail oder SMS und Tracking-Funktionen zur Verfolgung der Ankunftszeit. Letzter Kontaktpunkt sind immer die Qualität und die Sorgfalt, mit der die Lebensmittel verpackt werden.“ Wenn dabei alle Details beachtet und erfüllt sind, braucht es daher nach Spiegels Ansicht „gar keine Kompromisse“. Vielmehr biete sich „die Chance, die eigene Marke mit ,Herausstellungsmerkmalen‘ im Lieferservicemarkt zu etablieren“. Und welche Food-Delivery-Marken bekommen das derzeit so hin? Zu den bewährten Speisen, die man „gut auf Reisen schicken“ kann, zählen für Miick nach wie vor „Pizza, Chicken Wings und Gerichte mit Nudeln, Reis oder Bohnen“. Für dieses Erlebnis ist es entscheidend, die Gerichte in der Küche ausreichend auszuprobieren. Das Austesten von Zubereitung, Verpackung, Service und Warenausgabe liegt in der Hand des Betreibers. Wenn die Markeninhaber nicht ausprobieren oder kein richtiges Bewusstsein entwickeln, ist die Bruchlandung vorprogrammiert.“ Da spiele es auch keine Rolle, ob es sich um ein Projekt, einen eigenen Familienbetrieb, eine Kette oder ein Franchise-Unternehmen handelt, so Miick. Spiegel stellt dazu fest: „Nicht von ungefähr kamen gerade die klassischen Restaurants wie Pizzerien, asiatische Küchen oder Burger-Läden mit dem Lieferservice gut zurecht und sind unbeschadet durch die Pandemie gekommen, schließlich war das schon immer ein Teil ihres Konzepts. In New York landete der unabhängige Betrieb Hill Country BBQ einen Volltreffer mit seinen selbst entwickelten Verpackungen, in denen die Temperatur der Speisen perfekt gehalten wird; dazu wurde eine reiche Auswahl an Beilagen, Saucen und Spezialgetränken ins Programm aufgenommen – von Einzelportionen über Familienmahlzeiten und Catering bis hin zu Kochboxen. Auch die Kette Panera Bread weiß sich bestens zu helfen und bietet die einzelnen Gerichte in individuellen Verpackungen, in denen die Produkte bei der Auslieferung in Form bleiben und zugleich optisch ansprechend serviert werden können.“ Miick nennt Louis Basile von der „Wild Flower Bread Company“ in Scottsdale (Arizona), Nick Sarillo von Nick’s Pizza & Pub, Crystal Lake (Illinois) sowie David Owen vom De La Mer Fish Market in Toronto (Kanada) als Beispiele von Betreibern, denen es gelungen ist, die richtige Balance zwischen Bequemlichkeit und einem außergewöhnlichen Erlebnis zu finden. Nach Benders Ansicht sind In-N-Out, Habit Burger und Chick-Fil-A „die einzigen Marken, die dauerhaft ein hohes Fastfood-Niveau aufrechthalten. „Sie arbeiten hervorragend und konstant. Sie haben ein tolles Team.“ Demgegenüber gebe es im Casual-Dining-Bereich für Lieferservice derzeit „keine herausragende Marke“, und „alle anderen Segmente schneiden ganz schwach ab“. „Sie lassen unendlich viele Chancen ungenutzt und sind eine einzige Enttäuschung.“ Ein Hauptgrund besteht für Bender darin, dass diese Marken „zu viele BWLer und Anwälte in Eigentümer- oder Unternehmenspositionen haben“.
Persönliche Beziehungen
Was also können die Lieferservicemodelle – abgesehen vom Preisaufschlag auf die gelieferten Mahlzeiten – in der gegenwärtigen Lage noch unternehmen, um das Kundenerlebnis zu steigern? Bender ist überzeugt, „dass wirklich die aufgebauten persönlichen Kontakte mit den Kunden zählen, ebenso wie die ServPoints™, die von aufmerksamem Personal gebracht werden und die Marke des Restaurants (der Küche) repräsentieren.“ Seiner Meinung nach braucht es mehr „zweckmäßige, strukturierte Schulung und Ausbildung“, denn dies sei der einzige Weg zum Aufbau einer „Unternehmenskultur“. Hierzu verweist er auf das Buch Adored: The Leader Your Team Needs You To Be von Tom Decotiis als hilfreiches Nachschlagewerk für Anbieter im Lieferservicegeschäft, die um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Bequemlichkeit und hochwertigem Kundenerlebnis bemüht sind. Können die klassischen Lokale überhaupt mit dem Tempo und dem Bedienkomfort der neuen, rasanten Lieferservicemodelle mithalten? Spiegel ist der Meinung, dass „eine Marke, die sich an allen Kontaktpunkten um Exzellenz und Ausdifferenzierung bemüht, im Gedächtnis bleibt und vielleicht sogar die Fans des Lieferservice ins Restaurant lockt, sobald wir wieder zum Essen ausgehen können.“ Das ist natürlich ein bewegendes Ereignis, aber allein die Einschätzung der Food-Experten, dass der viel zitierte Kompromiss zwischen Bequemlichkeit und hochwertigem Erlebnis nicht zwingend nötig ist, dürfte eine ermutigende Nachricht für alle virtuellen Küchen und Lieferserviceanbieter sein. Die Qualität muss sich weiter verbessern, vor allem die „letzten Meter“ der Lieferung selbst. Wer aber fleißig dazulernt und mit Liebe zum Detail arbeitet, kann durchaus jenes „andere, bessere und besondere“ Erlebnis im Lieferservice erzeugen, das die Kunden davon überzeugt, die Bestell-Apps künftig immer wieder zu nutzen.