So weit, so düster die Handlung des Films Soylent Green aus dem Jahr 1973. Keine Spoiler, nur so viel: Artificial Food steht in keinem guten Licht da. Weniger gruselig, aber ebenso spannend ist die reale Entwicklung von künstlich erzeugten Lebensmitteln. Artificial Food wird auf den Tellern landen, denn für das Jahr 2050 prognostiziert die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 10 Milliarden auf der Erde. Und die wollen alle satt werden. Deshalb lautet die Frage zu Artificial Food nicht ob, sondern: wann und in welcher Form?
Von Astronautenkost und Retortenfleisch
Ende 2014 sorgte der Software-Entwickler Rob Rhinehart mit seinem Soylent-Pulver weltweit für Aufsehen. Das lösliche „Nahrungsmittel“ soll den kompletten Nährstoffbedarf eines Erwachsenen decken und feste Lebensmittel vollständig ersetzen können. Aber wo bleibt da der Genuss?
Zukunftsträchtiger ist da der In-vitro Burger. Die Herstellung von Fleischfasern im Labor klingt nach Sci-Fi, hat sich aber schon lange im medizinischen Bereich durchgesetzt – zum Beispiel, um Gewebe für Hauttransplantationen herzustellen. Für den Burger werden einem lebenden Tier Zellen entnommen, die sich in einer Nährlösung vermehren und zu Fleischsträngen zusammenwachsen. Dieser Vorgang läuft so lange, bis Milliarden von Zellen entstanden sind. Das dauert und kostet. Der erste Burger aus dem Reagenzglas wog 140 Gramm und kostete stolze 250.000 Euro – ein Burger-Patty zum Preis eines Einfamilienhauses. Vorgestellt wurde das Future-Fleisch 2013 von Mark Post, Gründer der niederländischen Organisation Mosa Meat und Erfinder des Petrischalen-Pattys.
Kunst-Ei, Vegane Hühnchen und Pflanzenmayo
Zugegeben, die genannten Beispiele sind extrem, aber vegetarischer Fleischersatz boomt. Auch abseits der futuristischen Ambitionen von Artificial Food wird unter Hochdruck an schmackhaften Food-Kreationen gearbeitet, die mehr als eine Alternative zum Fleischkonsum bieten.
Fleischlose Würstchen, Frikadellen und Leberwurst gibt es mittlerweile in jedem Supermarkt. Analogkäse befindet sich auf vielen Fertigpizzen, ob man die nun vegan wollte oder nicht. Das US-Start-up Hampton Creek bietet auch dem überzeugten Veganer das morgendliche Rührei. Mit Just Scramble kommen jetzt eingefärbte Mungobohnen auf den liebevoll gedeckten Tisch – voll pflanzlich, sehr eiweißreich und cholesterinfrei. Die krossen Pommes vom Streetfood-Markt gibt es mit Mayo ohne Ei, und Sojajoghurt ist so selbstverständlich geworden, dass er hier fast in der Liste gefehlt hätte. Der Bedarf an vegetarischen Alternativen und Fleischersatzprodukten ist da und wird in Zukunft weiter zunehmen. Ein Potenzial, das der Großteil der Gastronomie für sich entdeckt hat.
Jetzt gilt es, damit die Konsumenten zu erreichen, die weder vegan noch vegetarisch leben. Wer Bock auf einen Burger hat, will Fleisch, keine Seitanfrikadelle. Zumindest dann nicht, wenn sie sich geschmacklich nicht mit dem Original messen kann. Andererseits steigt das Bewusstsein für nachhaltige und fleischfreie Ernährung kontinuierlich. Die negativen Auswirkungen der Massentierhaltung, ihre katastrophale Klimabilanz und nicht zuletzt die gesundheitlichen Risiken von übermäßigem Fleischkonsum werden wahrgenommen und von den meisten kritisch beurteilt. Nicht ohne Grund setzen Gastronomen vermehrt auf regionale Produkte aus verantwortungsvoller Tierzucht.
Genau dieses wachsende Bewusstsein bedienen künstlich hergestellte Lebensmittel. Im Labor „gezüchtete“ Lebensmittel haben nämlich vornehmlich ein Ziel: Tiere aus der Fleischproduktion herausnehmen. Clean Meat bietet eine Lösung für ethische und ökologische Probleme. Bis es im Supermarkt liegt, wird es aber noch eine ganze Weile dauern.
Zwischen Kulinarik und Kommerz
Dass In-vitro-Fleisch marktfähig wird, erwartet der Deutsche Bundestag frühestens in 10 bis 20 Jahren. Mosa Meat aus den Niederlanden ist da optimistischer: Bis 2020 sollen die Burger etwa 10 Dollar pro Stück kosten, fünf Jahre später so viel wie der günstigste „echte“ Burger. Ambitionierte Ziele, aber notwendig, um das Retortenfleisch überhaupt marktfähig machen zu können.
Sollen die In-vitro-Burger jemals in den Küchen ankommen, müssen sie die Konsumenten überzeugen, denen es nicht primär um das Tierwohl geht – und das läuft nun mal größtenteils über den Preis. Die Produktion muss also hochgradig effizient sein. Und der Geschmack muss absolut überzeugen. Gelingt das, sind die Chancen für einen kommerziellen Vertrieb nicht mehr lange nur Zukunftsmusik.
Daran glauben auch die Investoren, die in das Kunstfleisch-Geschäft einsteigen, etwa in das US-amerikanische Start-up Memphis Meats, einer der Vorreiter in Sachen Retortenfleisch. Von Fleischbällchen bis Geflügel arbeitet man hier unter Hochdruck daran, In-vitro-Fleisch markttauglich zu machen. Der Wiesenhof-Konzern, Deutschlands größter Hersteller von Geflügelfleischprodukten, beteiligt sich nach einigen massiven Skandalen am israelischen Start-up SuperMeat.
Der internationale Support ist da. Finanzielle und organisatorische Probleme lassen sich durch effiziente Methoden auf Dauer lösen, kritisch wird es aber in Sachen Akzeptanz. Das Unbekannte erzeugt Skepsis. Der Gedanke an ein Soylent Green Endzeitszenario spukt im Kopf herum, auch wenn das Beef aus der Petrischale damit überhaupt nichts zu tun hat. Künstlich hergestelltes Fleisch – das ist so fremd, so futuristisch, so unnatürlich. Aber was bedeutet eigentlich natürlich? Im Grunde ist Artificial Food nämlich vor allem eines: Chemie. Und damit in erster Linie nichts anderes als Rind, Schwein, Huhn und Mensch. Gruseliger Gedanke? Auf jeden Fall. Aber rein wissenschaftlich läuft es darauf hinaus.
Ein Blick in die Zukunft
Verbraucher und Experten sehen Fleisch- und Milchersatzprodukte weiterhin kritisch. So richtig überrascht das nicht – mancher Veggi-Burger schmeckt wie ein herzhafter Biss in Pappe mit Ketchup. Da muss sich in Sachen Geschmack noch einiges tun. Der Burger aus der Petrischale konnte bei der ersten Verkostung auch nicht so richtig punkten. Salz soll auf jeden Fall gefehlt haben, und alles andere irgendwie auch. Mittlerweile versprechen die Hersteller, dass es keinen geschmacklichen Unterschied mehr geben wird.
Immerhin können sich laut einer US-amerikanischen Umfrage 65% der Befragten vorstellen, gelegentlich bis regelmäßig In-vitro-Fleisch zu essen. Vor ein paar Jahren sah diese Umfrage noch anders aus – 80 Prozent lehnten Laborfleisch damals kategorisch ab. Die Foodbranche erlebt also einen gigantischen Wandel und wird sich auch in den nächsten Jahrzehnten weiter radikal verändern.
Wie der menschliche Organismus schließlich auf künstlich hergestellte Nahrungsmittel reagiert, wird sich im Zweifel erst in vielen Jahren herausstellen. Bis dahin wird weitergeforscht und der Blick in die Zukunft gerichtet. Ob Utopie oder Dystopie wird sich zeigen.