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Der Traumfänger

Von: Lesezeit: 6 Minuten

Am Westufer des Gardasees machte der Ausnahmekoch Riccardo Camanini mit erst 42 Jahren aus einem einfachen Strandbad eine kulinarische Pilgerstätte der absoluten Extraklasse. Warum er zwei Jahre lang keinen Cent damit verdiente – und eine Hiobsbotschaft zu einem wahren Segen wurde.

Zunächst einmal: Nein, Riccardo Camanini hat nicht schon als kleiner Bub seiner Großmutter beim Pastakochen geholfen. Und nein, der kleine Riccardo hat auch nicht als spaghettiverschlingender Knirps davon geträumt, Koch zu werden. Ganz im Gegenteil: Erstens war das Essen im Hause Camanini eine völlig unspektakuläre Nebensache, und zweitens war seine Lehre als Koch in einem kleinen Dorfrestaurant in Bergamo an uninspirierender Trostlosigkeit nicht zu überbieten.

Und doch: Heute gilt der 47-Jährige als die kulinarische Sensation Italiens schlechthin. In seinem Anfang 2014 am Westufer des Gardasees eröffneten Lido 84, das als ehemaliges Strandbad über einen direkten Seezugang verfügt, erkochte er in nur sechs Monaten einen Michelin-Stern und erhielt in diesem Jahr den prestigeträchtigen One-To-Watch-Award der renommierten The-World’s-50-Best-Restaurants-Liste 2019.

Kurzum: Innerhalb kürzester Zeit hat Camanini aus dem Lido 84 eine kulinarische Pilgerstätte gemacht, die mittlerweile bis zu zwei Monate im Vorhinein ausgebucht ist und auf der To-visit-Liste eines jeden Foodies steht. Doch all diese Erfolge, so viel steht bei Camanini fest, sind Ergebnis harter, nein: härtester Arbeit, hoher Risiken und vor allem: jahrzehntelangen Lernens. Aber wer genau ist dieser Ausnahmekoch? Wie hat er es geschafft, sein eigenes Restaurant ganz ohne Investor zu einem der bekanntesten und vielversprechendsten in ganz Italien zu machen? Und was macht diesen international so vielbesprochenen Gourmettempel so besonders?

Mit Gastrovirus erfolgreich infiziert

„Damals, Ende der 1980er“, erinnert sich Camanini, „musste man sich in Italien bereits mit 14 Jahren entscheiden, was man machen wollte. Das war für mich viel zu früh. Ich wusste überhaupt nicht, wohin es gehen sollte. Als ich in diesem kleinen Hotel-Restaurant zu arbeiten begann, war ich einfach nur unglücklich.“ Das änderte sich vier Jahre später. Denn Riccardos Bruder Giancarlo, der heute als Serviceleiter des Lido 84 die Seele des Hauses ist, hatte gerade ein Mädchen kennengelernt, das – Achtung, kompliziert – die Freundin der Tochter einer absoluten Küchenlegende war: Gualtiero Marchesis, des Begründers der modernen italienischen Küche.

Der Zufall wollte es, dass Marchesi damals ein neues Restaurant in Brescia, unweit von Bergamo, eröffnete. „Sein Restaurant in Mailand war wirtschaftlich kollabiert“, so Camanini, „und mein Bruder erzählte also dieser Freundin, dass ich einen neuen Job suchte.“ Prompt begann Camanini also in Marchesis neuem Restaurant in Brescia ein Praktikum. „Ich erinnere mich an den ersten Tag“, schwärmt Camanini, „als ich diese riesige Küche sah. All diese eleganten und leidenschaftlichen Köche, die aus allen Ecken der Welt herkamen, um bei Gualtiero Marchesi zu arbeiten. Ich war wie verzaubert. Plötzlich habe ich eine vollkommen andere Perspektive auf meinen Job gehabt.“ Drei Jahre arbeitete sich der unheilbar mit dem Gastrovirus infizierte Camanini bei Marchesi hoch. Nach seinem Stage wurde er Commis de Cuisine in der Pasta- und Reis-Station, sechs Monate später Commis für Fisch, eineinhalb Jahre später schließlich wurde er zum Chef de Partie für Fisch befördert und zwei Jahre später zum Chef de Partie für Fleisch.

Was Camanini damals so beeindruckte, waren die typisch französische Arbeitsorganisation und der erste Einblick in hochelaborierte französische Küchentechniken. Vor allem als Chef de Partie arbeitete der lernhungrige Jungkoch intensiv mit Marchesi zusammen, der ihn als Mentor forderte und förderte – und bis zu seinem Tod 2017 Camanini noch ganze zehn Mal im Lido 84 besuchte. Und doch: Gerade durch dieses gastronomische Erweckungserlebnis fühlte Camanini den Drang, weiterzuziehen, zu lernen, aus Italien auszubrechen und in den besten Küchen der Welt Wissen aufzusaugen.

Riccardo Camanini und sein Bruder Giancarlo

Riccardo Camanini und Bruder Giancarlo | Image: Gerd Tschebular

Ein Jungkoch im Schlaraffenland

Nach drei Jahren bei Marchesi verwirklichte sich Camanini endlich diesen Traum – und zwar in Raymond Blancs Zweisterner Le Manoir aux Quat’Saisons in der Nähe von Oxford. „Dort habe ich die erste richtige Erfahrung in der französischen Küche gesammelt, aber sie war von kurzer Dauer“, erinnert sich Camanini. „Nicht, weil es mir bei Raymond Blanc nicht gefallen hatte, sondern weil es einfach immer mein Traum gewesen war, einmal in Paris zu arbeiten. Paris, das ist für einen Koch wie Hollywood für einen Schauspieler“, sagt Camanini.

Durch Freunde, die wiederum Freunde in Paris hatten – oder so ähnlich – ergatterte der rastlose Küchenfanatiker einen Posten als Commis de Cuisine im renommierten Einsterner La Grande Cascade des Alain-Ducasse-Schützlings Jean-Louis Nomicos. „Dort habe ich realisiert“, so Camanini, „wie anders, detaillierter und irgendwie tiefgründiger die Herangehensweise an die Saucenzubereitung war“, sinniert er. „Das hatte ich so noch nie erlebt. Das war nicht wie in Italien und anderen Küchen, wo lediglich ein Fischknochen-Sud reduziert und ein Schuss Olivenöl und ein paar Basilikumblätter hineingegeben wurden. Italienische Freshness ist eben simpel, aber die französische Küche ist in ihrem Geschmack viel, viel komplexer. Da wurden eine Menge Gewürze in die Saucen gegeben, verschiedene Pfeffer- und Essigarten, Foie gras … Dort habe ich wirklich zum ersten Mal verstanden, wie wichtig es ist, viel Zeit in gute Küche zu investieren.“

Das mag jetzt zwar danach klingen, als hätte Camanini seine Zeit in Paris ausschließlich hinter dem Herd verbracht. Doch genauso wertvoll wie seine Stunden in der Sterneküche waren seine freien Stunden außerhalb, in denen er konstant auf kulinarische Entdeckungsreisen ging und mit seinem unbändigen Wissenshunger alles aufsaugte, was ihm in die Quere kam. „Ich nutzte jede freie Sekunde und ging in die Boulangerien, zu Käseproduzenten oder in Sternerestaurants. Ich habe ganz Paris abgeklappert. Ich war wie Pinocchio im Land der Spielereien, erst 23 – und unglaublich glücklich“, so Camanini über diese magische Zeit seiner Wanderjahre.

Doch letztlich dauerte auch dieser Aufenthalt kürzer als gedacht. Denn nach einem Jahr schon erhielt Camanini das Angebot, in der Villa Fiordaliso am Gardasee die Stelle als Küchenchef zu übernehmen. Für den 24-Jährigen eine einmalige Chance. Ganze sechzehn Jahre kochte Camanini dort klassisch französische Fine-Dine-Küche. „Im Nachhinein würde ich sagen, ich hätte länger in Paris bleiben sollen“, sagt Camanini zwar, doch selbst vom Gardasee aus wusste der Getriebene sein kleines bisschen Freizeit für Paris zu nutzen. „Die Villa Fiordaliso war über den Winter immer geschlossen, also habe ich diese Zeit für zweimonatige Stages in Paris genützt.“ Vom Dreisterner Taillevent unter Michel del Burgo, dem Gourmettempel Lucas Carton bis hin zu Alain Senderens L’Archestrate, das von dessen Schützling Alain Passard bekanntlich übernommen und in Arpège umbenannt wurde, liest sich die Stage-Liste des passionierten Herdfanatikers wie das Who’s who der Pariser Spitzengastronomie. Kein Wunder also, dass Camanini nach all den Jahren anfing, darüber nachzudenken, einmal sein eigenes Ding zu machen.

Zwei Jahre ohne Einkommen

„Eigentlich haben Giancarlo und ich, wenn auch meistens scherzhaft, immer wieder davon geträumt, eines Tages unser eigenes Restaurant zu eröffnen“, erinnert sich Camanini. Wie es das Schicksal so will, machte ausgerechnet eine Hiobsbotschaft aus diesem Scherz plötzlich bitteren Ernst. Bei Camaninis Vater wurde im Oktober 2013 Leukämie diagnostiziert. Für ihn bedeutete das eine plötzliche Umstellung: „Ich habe die ersten vier Monate fast jede Nacht im Spital verbracht“, erinnert er sich. Als er erfuhr, dass das Strandbad samt Immobilie zum Verkauf stand, zögerte er nicht lange und rief seinen Bruder Giancarlo an. „Als Vertreter war er drei Wochen im Monat im Ausland unterwegs. „Ich sagte: ‚Giancarlo, komm nach Italien, das Lido steht zum Verkauf, wir könnten endlich unser eigenes Restaurant eröffnen – und uns um unseren Vater kümmern!‘“

Kurzerhand hingen die beiden Brüder ihre Jobs an den Nagel – und begannen ihr unternehmerisches Abenteuer, in dem bekanntlich nichts so läuft, wie man es sich vorstellt. „Die Priorität lautete jeden Tag aufs Neue: Probleme lösen. Es gab eigentlich nur Probleme, Probleme, Probleme“, erinnert sich Camanini an die Zeit vor und nach der Eröffnung des Lido 84 am 21. März 2014. „Giancarlo und ich sind nicht reich“, so Camanini weiter, „wir haben das Lido 84 ohne Partner auf die Beine gestellt. Wir haben gearbeitet wie die Verrückten, sieben Tage die Woche, ohne einen einzigen freien Tag – und das zwei Jahre lang. In dieser Zeit haben wir auch keinen einzigen Cent als Einkommen durch das Restaurant gehabt.“ Wer Camanini zuhört, fragt sich, ob der Tag auch im Lido 84 nur 24 Stunden hat. „Um 6 Uhr 30“, beginnt Camanini die Beschreibung seines damaligen Tagesablaufs, „fing ich mit dem Brotbacken an, um 8 Uhr 30 trudelten die Köche ein, dann wurde der Fisch geputzt, das Mise en Place gemacht, Anrufe beantwortet, ein neues Menü kreiert … Und abends, nach dem Service, ging es ins Krankenhaus zu meinem Vater.“ Sechs Monate nach der Eröffnung dann die absolute Sensation: Das Lido 84 erhält einen Michelin-Stern.

Erfolg und das schöne Leben

„Das war natürlich unglaublich“, sagt Camanini, „vor allem hat uns der Stern dabei geholfen, auch im Winter geöffnet zu haben. Denn früher, in der Villa Fiordaliso, hatte ich sehr klassisch mit Luxus­produkten wie Foie gras, Langoustine oder Kaviar gearbeitet. Bei einem Tasting-Menü um 48 Euro konnte ich mir das aber auf die Dauer nicht mehr leisten. Also habe ich mit all diesen Luxus­produkten aufgehört und stattdessen auf Fische aus dem Gardasee und im Winter auf Winterprodukte gesetzt. Das war eine herbe Umstellung, weil ich aufhören musste, mit Produkten zu arbeiten, die ich gut kannte, und meine Kreativität mit für mich eher unbekannten Produkten neu entdecken musste.“

Camaninis Neuerfindung tat dem Erfolg des Lido 84 keinen Abbruch, ganz im Genteil. Nicht nur hält das Lido 84 seither seinen Michelin-Macaron, auch Auszeichnungen wie der House Special Winner der World Restaurant Awards 2019 für Camaninis Signature Dish Cacio e Pepe in Schweineblase oder auch der Miele One-To-Watch-Award im Rahmen der The World’s 50 Best Restaurants geben Camaninis regional-kreativer Neuausrichtung mehr als Recht.

Cacio e Pepe in Schweineblase serviert im Lido 84.

Cacio e Pepe in Schweineblase | Image: Gerd Tschebular

Gerichte wie Risotto mit Sellerie, Messermuscheln und Anis aus der Emilia-Romagna oder dem Fisch des Tages, der je nachdem als Forelle, Aal, Barsch oder anderer Süßwasserschwimmer direkt aus dem Gardasee daherkommt und bei Camanini mit Honig, Tomaten und Schalotten serviert wird, zeigen: Die bistronomische Mentalität von bodenständigen Top-Produkten, die technisch perfekt und mit virtuoser Kreativität zubereitet werden, trifft offenbar den Nerv der Zeit. Und genau diesem will Camanini in Zukunft auch als Arbeitgeber verstärkt gerecht werden: „Ich würde gerne die Anzahl der Kuverts reduzieren. Was sich in den letzten zehn Jahren in der Gastronomie getan hat, ist unglaublich. Im Norden gibt es Restaurants, die bis zu drei oder vier Tage die Woche geschlossen haben. Es macht einfach Sinn: Die Kreativität floriert und das Leben ist ausgewogener. Wir wollen kein neues Restaurant oder sonst noch etwas auf die Beine stellen, sondern uns einzig und allein auf das Lido 84 konzentrieren.“ Noch nie hat ein geplantes Kürzertreten so vielversprechend geklungen.

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