Wenn das süße kleine Kalb auf der Schlachtbank landet, regt sich trotz aller Liebe zum Braten bei vielen das schlechte Gewissen. Wenn im Fernsehen Legebatterien zu sehen sind und Küken geschreddert werden, empören wir uns. Und wenn der mit Hormonen und Antibiotika vollgepumpte Fisch auf dem Teller liegt, dann … ist uns das egal. Der guckt nicht so süß wie das Kalb und ist nicht so flauschig wie ein Küken. Den sehen wir im lebendigen Zustand selten, und überhaupt – ist ja nur ein Fisch. Aber Alaska-Seelachs soll es bitte schon sein, und Wildfang sowieso.
Moment mal, da haben wir ein Problem. Um es zu verstehen, muss man eine ganzheitliche Perspektive einnehmen, und die beginnt nicht beim Fisch, sondern beim Menschen: Die Weltbevölkerung nimmt rasant zu, von heute rund sieben Milliarden Menschen auf fast zehn Milliarden bis 2050. Wir werden auch wohlhabender, und mit dem Einkommen steigt der Proteinkonsum. Deshalb werden wir ab 2050 um 70 Prozent mehr Protein brauchen als heute. Tierisches Eiweiß holen wir uns hauptsächlich aus dem Meer. Jeder Mensch verspeist im Schnitt 19 Kilo Fisch pro Jahr. Wir fischen, was das Zeug hält, und entnehmen den Ozeanen zweieinhalb Mal mehr Fisch, als sie auf natürliche Weise ersetzen können. 80 Millionen Tonnen waren es 2012. Das hat katastrophale Auswirkungen auf die Bestände. Heute gibt es nur noch halb so viele Fische wie 1970. Gleichzeitig verdoppelte sich der Fischkonsum seither. Das kann sich einfach nicht ausgehen.
Tatsache ist: Wir plündern die Ozeane. Wildfang gilt als Ferrari unter den Fischen. Man stellt sich das so schön vor: Der Fisch tummelt sich in malerischer Meeresdoku-Umgebung, genießt eine abwechslungsreiche Speisekarte und schwimmt munter zwei Mal um den Globus, bis er von einem auf seinem Boot sitzenden Fischer geangelt und geradezu liebevoll um die Ecke gebracht wird. Irrtum. Genauso gut kann Wildfang ziemlich viel Plastik gefuttert haben und in verschmutztem Wasser geschwommen sein. Wir trinken nicht mehr aus Plastikflaschen, haben aber kein Problem damit, Fisch zu essen, der vorher die Plastikflasche gegessen hat. Poseidon würde sich die Haare raufen.
Wir tun es jetzt schon, wir wissen es nur nicht
Wir müssen umdenken – die Ozeane entlasten und uns überlegen, wie wir auf nachhaltige Weise zu unserem Fisch kommen, sei es aus dem Meer oder aus Süßwasser. Die gute Nachricht: Wir müssen nicht das Rad neu erfinden. Die Lösung gibt es bereits, und sie heißt Aquakultur. Die schlechte Nachricht: Wir müssen uns ein bisschen anstrengen, ein paar Vorurteile ablegen. Nicht gleich sagen: Aqua-was? Kenn ich nicht, will ich nicht. Zucht ist schlecht.
Fisch ist das einzige Tier, das der Mensch noch jagt, um seinen Bedarf zu decken, aber die Trendwende ist längst im Gange: „Das System kippt gerade. Wir haben jetzt gleich viel Fischfang wie Fischzucht“, sagt die Foodtrendforscherin Hanni Rützler. Die Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO) weist darauf hin, dass die weltweite Fischproduktion mit 171 Millionen Tonnen 2016 so hoch war wie noch nie. 47 Prozent davon stammten aus Aquakultur. Betrachtet man nur den Fisch für den Konsum, lag der Anteil aus Aquakultur bei 53 Prozent. Das heißt, wir essen bereits mehr Zuchtfisch als Wildfang. Wir wissen es nur noch nicht. Aquakultur ist der am stärksten wachsende Sektor der Nahrungsmittelindustrie. „Man kann ohne Aquakulturen den Proteinbedarf nicht mehr decken“, sagt Hanni Rützler. „Der weltweite Hunger ist zu groß. Wildfang kann ihn nicht mehr sättigen. In 20 bis 30 Jahren werden Aquakulturen ganz normal sein.“
Was genau ist Aquakultur eigentlich?
Die FAO definiert Aquakultur als „Züchtung aquatischer Organismen sowohl in Küstenbereichen als auch im Landesinneren, einschließlich Maßnahmen in der Aufzucht, die die Produktion verbessern“. Genau das ist der springende Punkt, wo man beginnen muss, das Phänomen Aquakultur differenziert zu betrachten, und es ist auch der Ursprung des schlechten Rufs der Aquakultur. Denn nicht jede Aquakultur tut das, was wir als essenziellen Beitrag zur Deckung unseres Proteinbedarfs durch Fisch auf möglichst natürliche, nachhaltige Art und Weise definieren würden.
Dabei ist Fisch nicht nur überaus gesund, sondern auch die ressourceneffizienteste Proteinquelle, die uns zur Verfügung steht. Der Vergleich mit Fleisch zeigt: Für etwas weniger als ein halbes Kilo Rindfleisch braucht das Tier die acht- bis neunfache Menge Futter und 8000 Liter Wasser. Beim Zuchtfisch ist das Verhältnis hingegen 1:1. Das heißt, ein Kilo Futter für ein Kilo Fisch, je nach Art sogar weniger.
Mit Fischzucht wurde und wird viel Schindluder getrieben, das steht außer Frage. Profitgierige, moralferne Billigproduzenten betreiben ihre Anlagen mit der Chemiekeule, pumpen die Meerestiere mit Medikamenten voll und pferchen sie in derartig kleine Behälter, dass sie sich gegenseitig die Flossen abknabbern oder gleich gar keine ausbilden, weil sie keinen Platz dafür haben. Sie verwenden genmanipuliertes Futter oder füttern beispielsweise den Fleischfresser Lachs mit Soja, was ihn förmlich implodieren lässt. Die Fische schwimmen in verschmutztem Wasser in ihren eigenen Ausscheidungen. Kurz: das exakte Gegenteil dessen, wozu Aquakultur das Potenzial hätte.
Es gibt aber auch Pioniere, die dieses Potenzial entdeckt haben, die Zeit und Ressourcen in Forschung investiert haben, um Technologien zu entwickeln, die eine nachhaltige und naturnahe Aquakultur ermöglichen. Es geht darum, die natürlichen Bedingungen in geschlossenen Systemen zu imitieren, den Wasser- und Energieverbrauch auf ein Minimum zu reduzieren und gesundes Futter zu verwenden.
Pioniere der nachhaltigen Aquakultur
Grundsätzlich gibt es zwei Methoden der Aquakultur: gewaltige Netzgehege im Meer oder in Binnengewässern und Indooranlagen mit geschlossenen Kreislaufsystemen. Dort leben die Tiere in Haltungsbecken, der Clou ist eine integrierte Wasseraufbereitungsanlage, die das abfließende Wasser aus den Becken permanent durch mehrere Arten spezieller Filter mechanisch und biologisch reinigt, desinfiziert und wieder in die Zuchtbecken zurückleitet. Dadurch ist der Wasserverbrauch extrem niedrig und auf Chemikalien kann verzichtet werden. Die Technologie ist derzeit noch mit hohen Betriebs- und Investitionskosten verbunden, gilt aber trotzdem als zukunftsweisend.
Ein Vorreiter in diesem Bereich ist das Unternehmen Crusta Nova in der Nähe von München, das mit einem Zuchtvolumen von über 30 Tonnen die größte Indoor-Salzwassergarnelen-Aquakulturanlage in Deutschland und Europa für Pacific White Shrimp betreibt. Die bayerischen Garnelen werden artgerecht bei geringer Besatzdichte gehalten und ausschließlich frisch verkauft.
Noch ausgefeilter ist die Aquaponik, die gezielt Nutzpflanzen in den Kreislauf involviert. Die Pflanzen versorgen sich mit Nährstoffen aus dem Prozesswasser und werden durch die Ausscheidungen der Fische gedüngt. Sie entziehen dem Wasser also Nährstoffe und reinigen es dadurch automatisch, sodass ein ökologischer Kreislauf entsteht, der eine ressourcenschonende und effiziente Produktion ermöglicht. Aquaponik ist vor allem für Urban Food ein vielversprechendes Konzept. In Städten mit knappen Wasservorräten könnte sie in Zukunft eine zentrale Bedeutung für die Nahrungsmittelversorgung haben.
Während Indooranlagen das Lebensumfeld für die Fische künstlich erschaffen, verfolgen Schwimmnetze den Ansatz, die Aquakultur sozusagen um die Fische herum zu errichten, und zwar dort, wo diese ohnehin schon sind – im Meer oder in Seen. Open Blue Cobia ist Pionier der Tiefsee-Marikultur. Zwölf Kilometer vor der Küste von Panama betreibt es die größten Marikulturplattformen der Welt. „Die Aufzucht von Fischen in Küstennähe beeinflusst den Reichtum der Ökosysteme direkt vor der Küste sehr stark. Weiter draußen sind die Ökosysteme stabiler und es gibt viel natürlichere Lebensbedingungen für die Fische“, erklärt Remco de Waard, Director Business Development Europe.
[URIS id=11263]Den Fisch einfach Fisch sein lassen
Open Blue versucht, das natürliche Futter von Cobia möglichst genau zu imitieren, verzichtet auf Hormone, Farbstoffe, Pestizide und Antibiotika. Jahrelange Forschung hat außerdem ergeben, dass die Schwimmnetze das Ökosystem kaum beeinflussen.
Auch Regal Springs setzt auf nachhaltige Aquakultur im ursprünglichen Lebensumfeld der Fische. Das Hamburger Unternehmen züchtet Tilapia in natürlichen Seen in Mexiko, Honduras und Indonesien. „Wir wissen, wie wir billigen Tilapia herstellen, aber wir tun es nicht“, sagt Petra Weigl, General Manager Sales Europe. 2018 hat Regal Springs mit „We Care“ das weltweit erste Nachhaltigkeitsprogramm im Bereich der Weißfisch- und Tilapiaproduktion geschaffen. Um das Ökosystem der Seen möglichst wenig zu stören, wird nur ein Prozent der Wasseroberfläche bewirtschaftet. In den Schwimmnetzen herrscht eine geringe Besatzdichte, der Tilapia erhält überwiegend pflanzenbasiertes Futter und es werden umfangreiche Maßnahmen zur Sicherung der Wasserqualität gesetzt. Medikamente und chemische Zusätze werden nicht verwendet und die Fische bekommen so viel Zeit zum Aufwachsen, wie sie eben brauchen.
Küchenchefs als Schiedsrichter
Letzten Endes, das ist klar, macht der Geschmack die Musik. Die Produzenten sind das erste Glied in der Kette, wenn es darum geht, in der Nahrungsmittelindustrie etwas zum Positiven hin zu verändern. Aber es reicht nicht, wenn nur die Produzenten umdenken. Die Pioniere nachhaltiger Aquakultur werden es immer schwer haben im Wettbewerb mit Billigfisch und Wildfang. Auch Konsumenten müssen zum Umdenken bewegt werden. Das heißt im Endeffekt, sie müssen nicht nur einen überzeugenden Grund haben, um tiefer in die Tasche zu greifen und den signifikant höheren Preis für Fisch und Meeresfrüchte zu zahlen, sondern sie müssen auch dazu gebracht werden, das nicht für den berühmten wildgefangenen Alaska-Seelachs zu tun, sondern für Fisch aus nachhaltiger Aquakultur.
Beim Match Wildfang gegen Zuchtfisch kommt die Gastronomie als Schiedsrichter ins Spiel. „Bei Küchenchefs ist noch nicht angekommen, dass wir mehr Fisch aus nachhaltiger Aquakultur brauchen. Sie haben einen großen Einfluss auf Entwicklungen und Trends, darauf, ob unsere Ernährungskette mit hochqualitativen, geschmackvollen und gesunden Produkten in Zukunft gesichert bleibt“, gibt de Waard zu bedenken.
Ein Fisch schmeckt gut, wenn er in sauberem Wasser geschwommen ist, das richtige Futter bekommen hat, langsam gewachsen ist und sich viel bewegt hat. Nachhaltige Aquakultur zielt darauf ab, diese Bedingungen herzustellen und die Fische kontrolliert aufwachsen zu lassen. Bei Wildfang können Wasser- und Futterqualität nicht mehr garantiert werden, die Rückverfolgung reicht nur bis zum Fischer.
Die Frage, die sich jeder stellen sollte, lautet: Bin ich bereit, eine Innovation zu unterstützen, die geschmacklich vielleicht noch nicht an Wildfang herankommt, die aber das Potenzial hat, wirklich etwas zum Schutz der Meere und zur Deckung des weltweiten Proteinbedarfs beizutragen? Nicht gleich Nein sagen. Erst mal in Ruhe darüber nachdenken. Den Fischen zuliebe – damit es auch in Zukunft noch welche gibt.