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Kampf um die Sterne – Die Macht von Michelin, Varta und Gault-Millau

Von: Lesezeit: 6 Minuten
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Jedes Jahr sorgt er für Tränen, für Wutanfälle und für Freudenschreie: der Michelin-Stern, der die Stars und Sternchen der Gourmetküche im Restaurant-Ratgeber „Guide Michelin“ in den Himmel der Spitzengastronomie emporhebt. Manche Köche vergleichen die Gier nach den Sternen mit einer Sucht, nicht wenige zerbrechen am Konkurrenzkampf.

Die Spitzengastronomie ist hart umkämpft, die Karriere steht und fällt mit dem Prestige. So schnell wie ein neuer Michelin-Stern am Himmel aufgeht, so schnell kann er auch verglühen. Die weltweit besten Köche arbeiten Tag und Nacht unter Hochdruck auf die Auszeichnung hin – manchmal ein ganzes Leben lang. Wer dagegen einen Michelin-Stern hat, schielt bereits auf den nächsten. Einmal am Sternenhimmel der Elite vertreten, will man nicht mehr absteigen. Eine Überstunde jagt die nächste, Privatleben ade.

Immer mehr Spitzenköche drehen dem Sterne-Karussell den Rücken zu, steigen aus und widersetzen sich den Regeln und Gesetzen des Sterne-Universums. Trotzdem gilt der Michelin-Guide bis heute als Bibel der Feinschmecker. Nach welchen Regeln werden die Sterne vergeben? Wer entscheidet darüber? Und ist das alles berechtigt?

Sternstunde der Gastro: Warum ein Reifenhersteller über Koch-Karrieren entscheiden darf

Das pummelige Michelin-Männchen, wer kennt es nicht? Der französische Reifenhersteller mit diesem lustigen – oder, seien wir mal ehrlich – gruseligen Maskottchen stößt im Jahre 1900 auf eine gewinnbringende Marktlücke. Die raffinierte Idee der Touristikabteilung von Michelin: ein praktischer Werkstatt-Wegweiser, Autopflege-Tipps und Landkarte inklusive. Besser lässt sich die eigene Expertise bei der Zielgruppe nicht vermarkten. Zunächst for free, später dann gegen bare Münze. Denn der „Guide Michelin“ ist nahezu konkurrenzlos. Klar, dass das praktische Handbuch nicht nur bei den Franzosen gut ankommt, sondern sich zu einem echten Exportschlager in Europa entwickelt.

Michelin Stern Restaurant Verleihung

Michelin Mascot at the Michelin Star Revelation Hong Kong Macau 2020

In den 1920er Jahren nimmt der Reiseführer erstmals auch Hotel- und Restaurants in seine Empfehlungen mit auf. Wer allerdings denkt, der Michelin Guide beschäftige sich nur mit der teuren Gourmetküche, der irrt: Das Handbuch enthält – damals wie heute – Empfehlungen für jede Preisklasse. Die besonders herausragenden Adressen werden seit 1926 mit einem Symbol gekennzeichnet: ein blumenförmiger Stern, den die Franzosen liebevoll „macaron“ nennen. 1936 kommt es zu den drei Kategorien, mit denen Michelin bis heute „Sterneköche“ und „Sterne Restaurants“ in aller Welt auszeichnet:

● Ein Stern: diese Restaurants sind definitiv „einen Stopp wert“*
● Zwei Sterne: diese Lokale sind Autofahrern „einen Umweg wert“*
● Drei Sterne: die Raffinesse dieser Küche ist sogar „eine Reise wert“*

*in seiner jeweiligen Kategorie

Anonyme Inspektoren auf der Suche nach dem kulinarischen Kick: wie der Guide Michelin ermittelt

Weiße Alba Trüffel, Kaviar und Rindertatar, soufflierte Wachtelbrust, Champagner Cremesorbet: Wenn Sie bereit sind, regelmäßige Sieben-Gänge-Menüs zu ertragen und sich gerne in angesagten Gourmetrestaurants herumtreiben, sollten Sie über eine berufliche Zukunft als Michelin-Kritiker nachdenken. Voraussetzung: Sie haben eine Kochausbildung in einem gehobenen Betrieb absolviert, hervorragende Geschmacksknospen und wissen worum es sich bei Sot-l‘y-laisse, Vin Jaune oder Nouvelle Cuisine handelt.

Nun, ganz so einfach dürfte die Ernennung zu einem Michelin-Kritiker nicht werden, selbst wenn Sie diese Voraussetzungen erfüllen. Schaffen Sie es allerdings, steht Ihnen trotz der Gaumenfreuden so manch anstrengender 14-Stunden-Tag bevor, an dem Sie von einem Arbeitseinsatz zum nächsten etliche Kilometer zurücklegen. Nun ja, Michelin hängt eben mit Autos zusammen.

Aber Spaß beiseite: Nach einer monatelangen Einarbeitung entscheiden Sie gemeinsam mit Ihren Kollegen über Existenzen. Sie ermitteln anonym und undercover in Hotels und Restaurants. Schreiben spät abends ihre Berichte – ein Notizblock würde Sie spätestens zum Hauptgang entlarven. Der Michelin-Guide nimmt zwar Bewerbungen entgegen, aber die Redaktion allein entscheidet, welche Lokale geprüft werden. Deshalb halten Sie im Branchengeflüster stets Augen und Ohren offen, lauernd auf Geheimtipps, um deren Spur zu verfolgen und neue Küchen aufzuspüren, die sterneverdächtig sind.

Michelin kürt nämlich längst nicht mehr nur die Altmeister französischer „Haute Cuisine“, die Suche nach Sterneköchen ist schon lange nicht mehr auf Europa begrenzt. Seit Jahren soll sie diverser werden, die Welt der Sterne. Im Jahr 2017 erhält beispielsweise Jay Fai einen Michelin-Stern – die Köchin einer heruntergekommenen Straßenküche in Thailands verruchter Millionenstadt Bangkok. Der „Guide Michelin“ will modern sein, offen, innovativ – gelingt ihm das auch?

Fernab von Hypes: wie Gastronomen erfolgreich nach den Michelin-Sternen greifen

Die Spitzengastronomie bricht mit Traditionen. Wo früher noch silbernes Tafelbesteck, weiße Tischdecken und elegante Abendgarderobe zum Standard eines jeden Gourmet-Tempels zählten, überzeugt heute Andersartigkeit.

Zwar gibt es immer noch das klassische Format des piekfeinen Sternerestaurants inklusive Ober, der den Damen aus dem Pelzmantel hilft, doch besonders in Großstädten machen sich neue Formate breit: Hier wird der Gast geduzt, der Abend zum lustigen Gruppen-Event und der Hummer auf Schiefer statt auf Porzellan serviert. Der „Guide Michelin“ würdigt zunehmend auch solche Adressen als Sternerestaurant. Denn ob Straßenküche, Bistro oder Edelrestaurant: Der Michelin-Stern bewertet ausschließlich die Küche. Wer besonders auf Ambiente und Komfort achtet, orientiert sich neben den Sternen am Essbesteck-Symbol, das der Michelin Guide pro Restaurant bis zu fünfmal vergibt.

Fernab von Hypes um Molekularküchen, Minimalismus oder Internationalisierung bleiben die Regeln bei der Vergabe der Michelin-Sterne gleich. Was ein hervorragendes Essen von einem durchschnittlich guten Essen unterscheidet, ändert sich nicht – egal ob exotisch oder regional. Die Michelin-Kritiker prüfen jedes Drei-Gänge-Menü auf folgende Kriterien:

● Die Zutaten sind von hoher Qualität und Frische, fachgerecht und auf den Punkt zubereitet.
● Die Gerichte schmecken herausragend und besitzen eine kreative, persönliche Note.
● Das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt und die Gerichte sind dauerhaft und über die gesamte Karte hinweg auf einem konstant hohen Niveau.

Und so fahren die 85 Michelin-Inspektoren rund um die Welt, probieren fleißig Gänseleber und bretonische Hummer, um im Anschluss Berichte zu verfassen, die die Zukunft von Köchen und Restaurants für immer verändern können. Bevor ein Michelin-Stern abgezogen oder vergeben wird, überprüfen mehrere Inspektoren ein Restaurant. Doch die Tester bleiben zunächst anonym, niemand kann sie von einem normalen Gast unterscheiden. Oft outen sie sich am Ende des Besuchs – dann ist es allerdings zu spät für eine Sonderbehandlung. An jedem Tag, zu jeder Zeit können sie anwesend sein. Klar, dass bei einem solchen Verfahren der Druck auf Köche und Mitarbeiter steigt.

Michelin Star Verleihung 2020 2021 Liste

Michelin Star Revelation Hong Kong Macau 2020

Die Einsamkeit am Sternenhimmel: Fluch und Segen des Michelin-Sterns

Der Ton ist rau, die Ansagen klar – das gilt wohl für die Kommunikation in den meisten Küchen. Doch wenn kleine Fehler eine Kündigung nach sich ziehen können, ist das im Team deutlich spürbar. Alle müssen Hochleistung erbringen, voll da sein. Jeder Handgriff muss sitzen, jedes Detail perfekt sein – okay, zugegeben, nicht jeder Gastronom ist bei seinem Traum von einem Platz am Sternenhimmel so verbissen. Aber viele Mitarbeiter berichten dennoch vom Druck in der Spitzengastronomie, den der Kampf um Sterne, Münzen und Punkte verursacht.

Die Inspektoren des Michelin Guides sind schließlich nicht die einzigen, die über die Qualität von Restaurants richten. Der Markt der Restaurantführer ist heiß begehrt. Allerdings testen nicht alle selbst und wer die Berichte vergleicht, merkt leider schnell, dass in der Branche häufig voneinander abgeschrieben wird. Dennoch erscheinen jedes Jahr im Spätherbst zahlreiche Neuauflagen. Der Varta-Führer vergibt bis zu fünf Diamanten, der Gault-Millau krönt die besten Köche mit 20 Punkten und vier Kochmützen, der Schlemmer Atlas wertet mit Kochlöffeln – unzählige weitere Restaurantführer vergeben Noten und Bewertungen.

Der deutsche Restaurantführer Gusto geht einen besonders umstrittenen Weg: Alle, die darin mit Foto und ausführlicher Beschreibung erscheinen, haben dafür bezahlt. Allerdings bewertet der Gusto auch andere Restaurants – dann jedoch ohne Foto und langen Bericht – und versichert, die Bezahlung habe keinerlei Einfluss auf die Bewertung. Und tatsächlich steht er inzwischen auf Platz zwei der beliebtesten und einflussreichsten Restaurantführer – direkt nach dem Guide Michelin. Doch ob darum gebeten, dafür bezahlt oder ohne jede Einladung zur Inspektion: Dass die Verlierer, die in diesen Bewertungstiraden schlecht abschneiden, unglücklich sind, dürfte auf der Hand liegen.

Doch warum zur Hölle beschweren sich Köche, die mit Bestnoten ausgezeichnet werden? Ganz einfach: Sie haben keine Lust, in eine Schublade mit abgehobenen, teuren Gourmetschuppen gesteckt zu werden, wollen keine Feinschmecker-Touristen anziehen oder sich schlicht und einfach nicht dem Erfolgsdruck des Verfahrens aussetzen. Immer mehr Köche ziehen kreative Freiheit und Unabhängigkeit vor, wollen ihr eigenes Ding machen und pfeifen auf ihre Michelin-Sterne – die dürfen sie nämlich nicht mitnehmen, wenn sie das Restaurant verlassen, in dem sie die Sterne erkocht haben. Das Restaurant verliert den Stern übrigens ebenfalls.

Keine Lust auf Burnout: Der Sterneboykott der Spitzenköche

Sie zaubern die ausgefallensten Gerichte auf den Teller und entführen ihre Gäste in eine kulinarische Welt, für die diese bereitwillig eine mehrstellige Summe Eintritt zahlen: und zwar ohne einen einzigen Michelin-Stern. Immer mehr Spitzenköche gehen neue Wege, machen sich frei von dem Kampf um die Auszeichnungen – und bleiben dennoch erfolgreich. So wie Maria Groß, deren Stern im Jahr 2013 am Michelin-Himmel erscheint. Im Alter von 33 Jahren feiert Deutschland sie als seine jüngste Sterneköchin. Doch die junge Frau schießt die Karriere als Sterneköchin in den Wind und gründet 2015 ihr eigenes Lokal, in dem nicht die Regeln von Michelin, Gault-Millau und Co. gelten, sondern ihre eigenen. Sie ist Teil einer neuen Generation von Spitzenköchen, die keine Lust mehr haben, die bisherigen Spielregeln zu befolgen.

Es gibt dutzende weitere Beispiele. Wir alle erinnern uns an den Skandal im Jahr 2017, als der französische Starkoch Sébastien Bras in den Medien verkündet, seine drei Sterne abzugeben, die er für seine Kochkunst im Gourmetrestaurant „Le Suquet“ in der Auvergne erhalten hat. Ein Jahr später listet der „Guide Michelin“ ihn dennoch, dieses Mal mit zwei Sternen. Denn welches Lokal im Restaurantführer erscheint und wer nicht, obliegt der Pressefreiheit. Trotzdem verzichten Michelin, Varta und Gault-Millau teilweise aus Kulanz auf eine Namensnennung – und immer mehr Köche und Gastronomen äußern öffentlich ihren Wunsch, man möge ihre Adresse nicht als Sternerestaurant auflisten.

Die Zufriedenheit der Gäste: die beste Auszeichnung für einen Koch?

Sind wir mal ehrlich: Finden wir es gut, wie viel Macht die großen Restaurantführer über uns inzwischen besitzen? Ist es gerechtfertigt, wenn ihre Urteile ganze Karrieren beenden? Im Branchengetuschel gibt es Gerüchte von Absprachen, viel zu häufig sind die Entscheidungen bei der Vergabe nicht nachvollziehbar, eine neue Generation von Spitzenköchen verweigert sich der althergebrachten Hierarchie. Sind „normale“ Gäste nicht vielleicht doch die beste Jury für einen Koch?

Jein. Denn inzwischen bekommt durch Social Media jede noch so undifferenzierte Meinung ein Gewicht. Ein ausgebildeter Branchenexperte mit Fachkenntnissen erkennt einen Sternekoch vielleicht nicht immer – aber dennoch zuverlässiger als Herr Müller aus Kleinenbremen, der mit Hilfe einer bissigen Restaurantkritik die enttäuschende Verabredung mit seiner Ex-Frau auf Facebook verarbeitet, statt sich auf die Michelin-Kriterien zu besinnen. Objektivität und Expertise sind Werte, die Gastronomen entgegenkommen. Nicht jeder versteht etwas von Gourmetküche – das ist auch in Ordnung.

Das Problem ist also nicht die fachliche Bewertung, sondern die übermächtige Bedeutung einzelner Auszeichnungen und der daraus resultierende Druck. Aber keine Sorge, selbst wenn die Macht von Michelin, Varta, Gault-Millau und Co. sinkt: Das Streben nach Exzellenz, die Leidenschaft fürs Kochen und die Suche nach einmaligen kulinarischen Erlebnissen wird nicht aufhören. Oder um es mit den vier Worten von Thomas Keller, erfolgreicher Sternekoch und Besitzer eines Restaurant-Imperiums, zu sagen: „Food should be fun!“.

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