„Uns fehlt aktuell die Fantasie, was wir essen können, wenn wir weniger Fleisch essen“, sagt Food Trend-Expertin Hanni Rützler. Immerhin sehnt sich der Mensch seit jeher nach Fleisch, oder? Manche Forscher gehen sogar so weit, zu behaupten, dass der Konsum von Fleisch bei der Entwicklung des Gehirns eine maßgebliche Rolle gespielt und uns zu dem gemacht hat, was wir heute sind. Wobei diese Theorie umstritten ist. Kein Zweifel besteht hingegen darin, dass Fleisch durch die industrielle Massentierzucht sehr stark in die Kritik geraten ist, sowohl aus ethischer als auch aus ökologischer Sicht. Mit letzterem befasst sich auch die bereits zuvor zitierte Studie der Universität Bonn, die neben den Auswirkungen des Fleischkonsums auf Umwelt und Klima auch die Gesundheits- und wirtschaftlichen Effekte untersucht. Doch was sollen wir wirklich stattdessen essen?
Weder Fisch noch Fleisch, sondern Plant-based-Food
Die einfachste Lösung scheint für viele sogenanntes Plant-based-Food zu sein, also Fleisch- oder Fisch-Ersatzprodukte, die zumeist industriell aus Gemüse oder Obst, Algen, Pilzen oder Hülsenfrüchten hergestellt werden. Und immer mehr kleine Start-Ups sowie große Konzerne springen auf diesen Zug auf. „Hier herrscht eine regelrechte Goldgräberstimmung“, erklärt die Trendforscherin, „weil die Industrie erkannt hat, dass der Konsument nach Alternativen sucht.“
Dank neuer Technologien gelingt es mittlerweile immer besser, Fleisch zu imitieren. Während es anfangs nur Hack oder Faschiertes auf Pflanzenbasis zu kaufen gab, bringen Unternehmen wie der amerikanische Nahrungsmittelkonzern Beyond Meat heute Steakspitzen auf Basis von Erbsen auf den Markt, die dem Original in Sachen Sensorik und Geschmack schon sehr nahekommen. „Beyond Meat macht damit „pflanzliches Fleisch“ zugänglicher denn je und erleichtert es Konsumenten, über ihre üblichen Essgewohnheiten hinauszugehen“, schreibt Hanni Rützler in ihrem Report zu den aktuellen Food Trends 2024.
Flexitarier als größte Treiber
Wobei sich die Zielgruppe des Trends nicht bloß, wie oft angenommen, auf Vegetarier oder Veganer beschränkt. In Wahrheit sind es Flexitarier, die diesen Trend am meisten treiben. Und davon gibt es insbesondere in Europa immer mehr. So ergab eine Studie des Meinungsforschungsinstituts forsa aus dem Jahr 2022, dass der Anteil der Flexitarier allein in Deutschland innerhalb von zwei Jahren von 44 auf 47 Prozent gestiegen ist. Und auch in anderen Ländern steigt die Anzahl derer, die auch mal auf fleischfreie Alternativen zurückgreifen. Weltweit liegt dieser laut einer Euromonitor-Studie bei knapp 42 %. Experten der Boston Consulting Group schätzen zudem, dass der Markt für alternative Fleisch-, Eier-, Milch- und Meeresfrüchteprodukte bis 2035 wahrscheinlich mindestens 290 Mrd. US-Dollar erreichen wird.
„Plant-based-Food das Zeug zum Mainstream“, erklärt Rützler, „Flexitarier möchten den Fleischkonsum reduzieren, können sich aber nicht vorstellen, was stattdessen auf die Teller kommen soll, und greifen deshalb zu Ersatzprodukten. Aber auch da braucht es noch mehr patente Lösungen.“ Alternativen für die Alternativen, sozusagen. Und die kommen unter anderem aus dem Labor, aber auch aus den Gourmetküchen.
Image: Beyond Meat
Vegourmets entwickeln unsere Esskultur weiter
Speziell in der urbanen Gastronomie haben sich so kreative Konzepte entwickelt, die sowohl auf Fleisch aus Massentierhaltung als auch auf Plant-based-Food verzichten. Doch wer glaubt, dass in den Gasträumen Wünsche offenbleiben, der hat weit gefehlt. Sogenannte „Vegourmets“, wie Hanni Rützler sie nennt, kreieren Gerichte bei denen aus frischen, pflanzlichen Ausgangsprodukten vollkommen neue Geschmackserlebnisse und Konsistenzen auf den Teller kommen. Und hierzu zählen Starköche wie Paul Ivić vom Wiener „Tian“, Alexis Gauthier vom Londoner „Gauthier Soho“ oder den Schweizer Tobias Buholzer, Inhaber des Restaurants „die rose“. Diese versuchen erst gar nicht, den Geschmack von Fleisch zu imitieren oder fleischfreie Varianten bekannter Gerichte zu kochen, sondern vielmehr Speisen anzubieten, bei denen man das Tierische in keinster Form vermisst. „Das ist wirklich beeindruckend und hochgradig innovativ“, schwärmt die Food Trend-Forscherin.
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Weltweit komplett auf Fleisch zu verzichten, ist jedoch im vollem Umfang vermutlich nur sehr schwer umsetzbar. „Denn im Gegensatz zu früher ist Fleisch heute leistbar und im Überfluss vorhanden, die ärmere und karge Küche von damals ist also keine Option. Stattdessen braucht es eine adäquate Küche, die dem Niveau von heute entspricht, aber deutlich nachhaltiger ist.“ Ob aber wirklich pflanzenbasierte Alternativprodukte die Lösung für das zu Beginn beschriebene „Problem“ darstellt, bleibt zu bezweifeln. Denn ganz unumstritten sind die zumeist industriell hochverarbeiteten Alternativprodukte nicht. Zum einen überzeugen bislang noch nicht viele der plant-based Food Produkte geschmacklich, zum anderen ist die Datenlage noch zu dürftig, um valide Aussagen und Vergleiche hinsichtlich ihrer Klimafreundlichkeit treffen zu können, so die Beurteilung im Trendreport.
Käse aus Hefe und Fleisch aus dem Labor
Also was serviert man eben jenen, die weder auf pflanzenbasierte hoch industriell gefertigte Alternativprodukte zurückgreifen, noch auf Fleisch verzichten möchten, aber trotzdem den Planeten schützen wollen? Auch in diesem Bereich tut sich viel. Großes Potenzial für die Herstellung nachhaltiger Lebensmittel sieht Hanni Rützler in neuen Techniken wie etwa der Präzisionsfermentation. Dabei können mithilfe von Hefen Lebensmittel hergestellt werden, die dieselben Eigenschaften wie Käse aufweisen und genauso schmecken, aber den Vorteil haben, dass dafür keine Tiere gehalten werden müssen.
Und auch In-Vitro-Fleisch, also künstlich im Labor hergestelltes Fleisch, das seit kurzem in den USA produziert und verkauft werden darf, könnte Plant-based-Food schon in näherer Zukunft den Rang ablaufen. „Das ist eine große Zukunftsentwicklung“, prognostiziert die Trendforscherin, „und wenn dieser Markt schnell wächst und es gelingt, In-Vitro-Fleisch gut zu vermarkten und zu skalieren, kann das den gesamten Fleischmarkt komplett umkrempeln.“
Bevor es allerdings auch in Europa so weit ist, dass derartige Lebensmittel auf den Markt kommen, wird es noch ein bisschen dauern, denn bislang stecken viele dieser Lebensmittel in den Zulassungsverfahren der EU fest.