Seltsam. Da steuern wir als Menschheit auf eine Klimakatastrophe zu – und niemand interessiert sich für Algen. Dabei lohnt sich ein Blick unter den Meeresspiegel heute mehr denn je. Warum? Weil Algen das wohl klimaneutralste Lebensmittel auf unserem Planeten sind. Weder braucht es zur Gewinnung dieses vielseitigen Meeresgemüses irgendeine Art von Dünger, geschweige denn Pestizide. Noch greift die Algenproduktionen in das maritime Ökosystem ein. Im Gegenteil: Je nach Landstrich lassen sich Algen ganz und gar klimaschonend züchten oder sie werden aus Wildbeständen geerntet.
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Algen: nachhaltig, gesund und unterschätzt
„Viele Algen wachsen bis zu 30-mal schneller als Landpflanzen“, sagt Jürgen Mann. „Die Lücken in den Tangwäldern sind damit schnell wieder ausgeglichen.“ Der Algenexperte weiß, wovon er spricht: Gemeinsam mit der deutschen Kochlegende Otto Koch hat er das wahrlich akribisch recherchierte Buch „Algen und Küstengemüse“ über Algenproduktion herausgebracht. Wie nur wenige im deutschsprachigen Raum weiß Mann, worauf es bei der Algenzucht und Ernte wirklich ankommt. Wie der Markt sich entwickelt. Aber auch, wie die Gastronomie im deutschsprachigen Raum auf Algen anspricht. „Da ist zugegebenermaßen Luft nach oben“, sagt er.
Doch gerade das Thema einer klimaschonenden Ernährung wird für viele Menschen immer wichtiger. Und auch der gesundheitliche Aspekt von essbaren Algen fasziniert in der Post-Corona-Zeit Konsumenten mehr und mehr. „Wenn eine Pflanzengattung den Begriff Superfood verdient, dann Algen“, ist Mann überzeugt. Neben einer bis heute maßlos unterschätzten Geschmacksvielfalt bringen sie so viele gesunde Inhaltsstoffe mit sich wie nur die allerwenigsten Gemüsearten an Land.
So wertvoll wie Tierprodukte
Bis heute wird davon ausgegangen, dass Algen die einzige rein pflanzliche Vitamin-B 12 Quelle sind. Das wertvolle Vitamin, das sonst nur in tierischen Produkten steckt, ist essenziell für die Bildung roter Blutkörperchen und das Funktionieren des menschlichen Nervensystems. Außerdem enthalten Algen eine erstaunlich hohe Anzahl an Eiweiß, ungesättigten Fettsäuren, Ballaststoffen, Aminosäuren und Spurenelemente wie Eisen, Zink, Selen und Fluor. Sogar die Ballaststoffe der Algen können in der Küche Wunder wirken: „Die Ballaststoffart der Phykokolloiden kommt ausschließlich in Algen vor und eignet sich unglaublich gut als Gelier und Bindemittel. Sie wirken aber auch als Emulgatoren oder Stabilisatoren“, sagt Mann.
Die drei bekanntesten Phykokolloiden sind das Alginat, Agar Agar und Carrageen. Damit können Saucen gebunden werden, sie sind zudem ein veganer Ersatz für Gelatine. „Dazu kommt der Vorteil, dass im Dessertbereich saures Obst wie Ananas abgebunden werden kann, das gelingt mit Gelatine nämlich meistens nicht.“
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Dann wäre da noch die Sache mit dem Jod. Immer wieder liest man von Warnungen vor einem übermäßig hohen Jodgehalt in Algenprodukten. Für Mann sind die meisten davon jedoch übertrieben. „Getrocknete und frische Algen werden nach der Ernte gründlich gespült oder eingeweicht. Das passiert vor allem, um das überschüssige Salz abzuwaschen. In den meisten Fällen wird damit auch ein Großteil des Jods entfernt.“ Wobei ein kleines bisschen Jod schon in den Algen bleiben sollte. Schließlich braucht der menschliche Körper dieses Spurenelement, vor allem für die natürliche Produktion von Schilddrüsenhormonen. „Viele Alpenländer, also auch Gebiete im deutschsprachigen Raum, sind immer noch Jodmangelgebiete, in denen gehäuft Schilddrüsenerkrankungen auftreten“, sagt Mann. „Da reicht das jodierte Speisesalz nicht immer aus. Dort, wo selten Meeresprodukte verzehrt werden, wäre die Bereicherung vieler Gerichte mit Algen eine gute Alternative.“
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Aber wie genau werden Algen angebaut? Wie werden sie geerntet? Und was passiert nach der Ernte?
Superfood Algen: Ungeahnt vielseitig
Algen können auf drei Arten kultiviert werden: an Land, im Küstenbereich und weit draußen im offenen Meer. Die allermeisten Algenproduzenten setzen auf den Anbau im Küstenbereich. Warum? Weil die „Unterwassergärten“, wie Mann sie liebevoll nennt, mit vergleichsweise wenig Aufwand bewirtschaftet werden können. Im Gegensatz zum Anbau im Landesinneren muss nicht ständig frisches Wasser in Becken gepumpt werden. Und anders als beim Anbau im offenen Meer sind die Küstenplantagen leicht erreichbar, für die Erntetaucher weniger tief und auch weniger den Launen der Natur ausgesetzt. Herr über einen dieser küstennahen Unterwassergarten ist Antonio Muiños. An der galizischen Atlantikküste im Nordwesten Spaniens bewirtschaftet der Spanier eine Vielzahl an Speisealgen, darunter Kombu, Wakame, Meeressalat oder auch die sogenannten Meeresspaghetti. Muiños betreibt außerdem eine zusätzliche On-shore-Zuchtanlage, wobei seine über 100 Zuchtbecken direkt an der Küste liegen. Damit können diese Algentanks mit frischem Meereswasser versorgt werden, das nur wenige Meter entfernt herangespült wird.
Gerade in der heutigen Zeit bieten solche küstennahen Tanks einen entscheidenden Vorteil: Sie bieten die Möglichkeit zu experimentieren. Zum Beispiel können hier neue Algenarten auf ihre kulinarische Tauglichkeit geprüft werden. Aber auch Messungen jeglicher Art – zum Beispiel Nährwerte, die sich mit den Wassertemperaturen oder der Sonneneinstrahlung ändern könnten – lassen sich so viel einfacher durchführen. Ein weiterer Vorteil: Da diese Tanks mit Schirmen vor zu starker Sonneneinstrahlung geschützt sind, kann auch die Erntezeit der Algen verlängert werden. Im Küstengewässer selbst unterliegt die Ernte oft einem engen Zeitfenster, da einige Algenarten der Sonneneinstrahlung nicht lange widerstehen können. „In einem dieser Tanks können innerhalb von 15 Tagen bis zu 150 Kilogramm Algen zur Marktreife heranwachsen!“, schwärmt Mann. Aber was passiert im Küstengewässer selbst?
IMPFEN, BIS DIE TAUCHER KOMMEN
Einerseits ist es das kühle Atlantikwasser, das Algen an der Küste Galiziens so prächtig gedeihen lässt. Andererseits punktet dieses Fleckchen Erde mit steilen, felsigen Ufern, ähnlich den Fjorden in Norwegen. „In Galizien heißen die Rias“, sagt Mann. „Algen wachsen dort besonders gut, weil sie an diesen Felsen Halt finden.“ Der Großteil der Ernte findet im Zeitraum zwischen März und Juni statt. Entlang der Küste holen die Erntetaucher in diesem Zeitraum bis zu 500 Kilogramm Algen pro Tag aus dem Wasser. „Die meisten Taucher“, sagt Mann, „brauchen für die Ernte keine Druckluftflaschen. Taucherbrille und Schnorchel reichen vollkommen aus.“ Meist kommen die abgeschnittenen Algen dann in Netze, diese ziehen die Erntehelfer auf das Boot und bringen die Beute ans Ufer, wenn das Boot voll ist.
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Wobei Algen nicht nur auf dem Meeresboden wachsen. Algenproduzenten wie Antonio Muiños machen es immer öfter Muschelzüchtern nach und lassen das wertvolle Meeresgemüse an Seilen wachsen. Und zwar, indem sie die Seile mit jungen Algen beimpfen, die dann zwischen März und Juni austreiben. „Besonders geeignet für diese Zuchtform ist der Zuckerkombu“, sagt Jürgen Mann. Und fügt hinzu: „Diese Braunalge ist nicht mit der Kombu Alge zu verwechseln. Die nämlich kann vom Boden bis zu zwölf Meter groß werden, dafür braucht es keine Seile.“
Algen: Superfood und Food Trend 2023
Verkauft werden essbare Algen heute in der Regel auf drei Arten. Entweder frisch, eingesalzen oder getrocknet. Die getrockneten Algenprodukte machen rund 90 Prozent der weltweiten Algenproduktion für kulinarische Zwecke aus. „Dafür werden die Algen mehrere Male hintereinander gewaschen und auseinandergefaltet, um Sand, Muscheln oder Meeresschnecken zu entfernen“, erklärt Mann. „Danach kommen sie in den Trockenofen bei 80 bis 90 Grad. Je nach Alge trocknen sie dort zwischen zwölf Stunden und drei Tage. Was sie für die Gastronomie und den Lebensmittelhandel so interessant macht, ist ihre Haltbarkeit von zwei bis drei Jahren. Außerdem nehmen sie in getrocknetem Zustand nicht viel Platz weg.“
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Fassen wir also zusammen: Klimafreundlich, vielfältig in Geschmack und Textur, über alle Maßen gesund, lange haltbar und noch dazu platzsparend – ist es nicht nur eine Frage der Zeit, bis Algen kulinarisch endlich durchstarten? „Das heißt es seit Jahren immer wieder, und dann passiert aber nicht besonders viel“, sagt Mann. „Aber ich glaube, es kommt langsam Bewegung in die Sache. Die Nachfrage jedenfalls könnte jederzeit gedeckt werden. Im Meer ist Platz genug.“
- Aonori: Diese Algenart wird auch grüner Seetang genannt und ist eine japanische Süßwasseralge. Sie wird meist getrocknet verwendet und ist recht würzig.
- Codium: mit einem unverkennbarem Krustentieraroma ausgestattet, findet diese Algenart oftmals Verwendung als Beilage zu Fischgerichten oder auch im Salat.
- Kombualge: Diese Algenart kann bis zu 12 Meter groß werden und weist als einzige einen hohen Jodgehalt auf – deswegen wird sie eher als Würzmittel gebraucht.
- Kraussterntang: eine an vielen Küsten Europas vorkommende Rotalgenart. Sie wird in Irland oft als Hausmittel bei Erkältungen verwendet hat aber auch eine große Bedeutung für die Lebensmittelindustrie für die Herstellung von Carageen (Gelier- und Verdickungsmittel)
- Nori: insbesondere für die japanische Küche wichtig und wahrscheinlich am bekanntesten, denn diese Algenart wird getrocknet und weltweit als Sushi-Blätter verwendet.
Ganz im Sinne der Nachhaltigkeit nennt auch Hanni Rützler Algen als eines der Trend-Lebensmittel in ihrem Food Report 2023. KTCHNrebel hat die wichtigsten Erkenntnisse zusammengefasst: Food Trends 2023