Frühstück, Mittagessen, Abendessen. Vorspeise, Hauptgang, Dessert. Lange hätte man so die prototypische Nahrungsaufnahme der Menschen in unseren Breitengraden beschrieben. Doch wie oft essen wir noch nach dem Vorbild dieser Dreieinigkeiten? „Zum Abendessen bist du zuhause“ brauchte früher meist keine weitere Erklärung. Die Essenszeiten waren routiniert und – mehr oder weniger – akzeptiert. Es wurde gemeinsam aufgegessen, was auf den Tisch kam. Tatsächliches Hungergefühl und persönlicher Gusto spielten in diesem Moment eine untergeordnete Rolle. Wirkt aus der Zeit gefallen? Kein Wunder.
Individuelle Ernährungsformen, mobilere Lebensstile, neue Arbeitszeiten und -orte, die höhere Berufstätigkeit von Frauen und die Zunahme von Singlehaushalten sorgen heute für völlig neue Voraussetzungen. Das Mittagessen wird wochentags in Deutschland etwa nur noch von knapp mehr als der Hälfte der Bevölkerung zuhause eingenommen, 2005 waren es noch zwölf Prozent mehr. Auch das Frühstück, einst wichtigste Mahlzeit, wird „On-the-go“ zunehmend Teil des Arbeitsweges. Essen begleitet uns durch den Alltag, anstatt ihn zu strukturieren. „Heute isst man, wenn man Zeit, Lust oder Hunger hat, und genießt – auch allein – immer häufiger einfach eine kleine Mahlzeit zwischendurch“, sagt die renommierte Food-Expertin Hanni Rützler, die „das Ende der Mahlzeiten (wie wir sie kennen)“ sieht.
Und was kommt dann?
Snackification! Der Begriff aus den USA beschreibt den Trend zu kleinen Zwischendurchmahlzeiten. Bei einer Umfrage unter amerikanischen Millennials gaben 92 Prozent an, mindestens einmal pro Woche statt einer Mahlzeit einen Snack zu sich zu nehmen. Die Hälfte der Befragten tut dies mindestens vier Mal pro Woche. Wer dabei vornehmlich an Chips, Schokoriegel und Pizzaschnitten denkt, ist allerdings auf dem Holzweg. Für 52 Prozent der Befragten ist die Komponente Gesundheit ein entscheidender Faktor bei der Wahl ihres Snacks.
Ein starkes Bewusstsein für hochwertige und nachhaltige Nahrungsmittel ist heute Kernelement vieler Lebensstile, die sich stark darüber definieren, was und wie sie essen. Daher sind es auch in Mitteleuropa nicht Würstchen, Pizza und Kebab, sondern Bowls und Co. die ihren Siegeszug antreten. Mahlzeiten müssen heute nicht nur schnell dort verfügbar sein, wo man sich befindet, sondern auch den eigenen Werten entsprechen. Fast Good statt Fast Food lautet das Motto, auch im Rahmen der Snackification.
Die Signature-Dishes unserer Zeit
Die aktuell beliebten Poke oder Buddha Bowls bedienen viele der Snackification-Bedürfnisse: Sie sind schnell und individuell zusammengestellt, oft vegan, immer mit viel Gemüse, mit trendigen Getreiden wie Quinoa und Hirse oder Reis, Hülsenfrüchten und Tofu, Nüssen, Kräutern Pilze und Samen. Die Bowls bieten durch das direkte Erleben des Zusammenstellens eine gewisse Transparenz und lassen sich bequem zwischendurch konsumieren. Sie sind leichter als ein volles Menü und bieten Raum, um Neues auszuprobieren. „Die unbegrenzte Vielfalt, die dadurch möglich wird, macht die gesunden Bowls zum Signature-Dish unserer an Individualisierung, Mobilität und Gesundheit orientierten Esskultur“, verdeutlicht Rützler.
Doch schon vor den Bowls hielten Mini-Mahlzeiten aus anderen Kulturen Einzug. Tapas, Bento-Boxen oder Mezze sind mediterrane, asiatische und levantinische Formen der Mimas, die die mitteleuropäische Esskultur ergänzen. Was früher nur als Vorspeise durchgegangen wäre, als Snacken bezeichnet oder vielfach mit „ich esse nur eine Kleinigkeit“ umschrieben wurde, wird heute ganz selbstverständlich zum eigentlichen Essen. Kleine, vielfältige, aromatische Gerichte und Variationen statt traditioneller Menüs. Falafel mit Hummus und Minzjoghurt wird da schnell zum Ersatz für ein gewöhnliches Mittagessen und der Obstsnack zwischendurch zur Smothiebowl. „In der künftigen Esskultur kann jedes Lebensmittel, jedes Getränk und jede Speise zu einer Mini-Mahlzeit werden: Snacking wird zu einer neuen Art zu essen“, sagt Rützler. Essen wird legerer, gesünder und weltoffener.
Mehr Flexibilität ist gefordert
Die klassische Gastronomie wird durch Snackification herausgefordert, vor allem bei Portionsgrößen und Öffnungszeiten. Frühstück bis in den Nachmittag oder gar den ganzen Tag lang, das mag zu Beginn so manchen Traditionalisten irritiert haben. Doch die Ausdehnung der beliebten Frühstücksangebote war eine Antwort auf Bedürfnisse, vor allem der jungen, urbanen Bevölkerung. Sie war ein erstes Zeichen für den Wunsch, zu essen, was und wann man will. Starre Essensstrukturen, Speisefolgen und Zusammensetzungen ziehen gegenüber Spontaneität und Genuss nach Lust und Laune den Kürzeren.
Inaki Aizpitarte zeigt beispielsweise mit seinem Le Dauphin in Paris, dass die Snackification selbst in Frankreich seinen Platz neben der traditionellen Küche – und in diesem Fall direkt neben seinem Top-Restaurant Le Chateaubriand – findet. Die Karte bietet tropische und baskische Mini-Mahlzeiten, nachmittags werden Suppen und bis tief in die Nacht hinein Tapas kredenzt. Mimas bieten auch den experimentierfreudigen Gastronomen Raum, ihren Gästen Neues schmackhaft zu machen, da die kleinen Portionen eher zu kulinarischen Abenteuern einladen. Der Großteil der Gastronomie-Branche orientiert sich mit seinem Angebot aber immer noch zu sehr an den klassischen Konventionen, meint Rützler. „Wenn Snacks zu Mimas werden, die auch den Gesundheitserwartungen der Kunden entsprechen, dann müssen auch Konzepte, Portionsgrößen und Servicezeiten adaptiert werden“, ist sich die Food-Expertin sicher.