Die internationale Spitzengastronomie ist längst zu einem hyperdynamischen Netzwerk geworden, das sich von Erkenntnissen mehrerer Disziplinen speist: von der Agrarwissenschaft, der Biologie und Chemie bis hin zur Soziologie und Wirtschaftswissenschaften saugt sie unentwegt die neuesten Errungenschaften unterschiedlichster Wissensgebiete auf und verwertet diese, wenn man so will, auf ihre ganz eigene Art und Weise.
Es ist umso verwunderlicher, dass sich gewisse Mythen wacker halten. Wie zum Beispiel: „Je frischer, desto besser.“ Eine Maxime, die – verständlicherweise, einerseits – natürlich für jedes Lebensmittel gilt, aber bei keinem so vehement, ja geradezu naiv verfochten wird wie bei Fisch. Warum eigentlich? Das fragte sich vor einigen Jahren Josh Niland.
Der australische Spitzenkoch eröffnete 2016 sein von der internationalen Kritik hochgelobtes Fischrestaurant Saint Peter in Sydney, das 2019 nicht umsonst in die Shortlist der World Restaurant Awards in der Kategorie „Ethical Thinking“ aufgenommen wurde. Dort nämlich denkt Niland die gesamte kulinarische Verarbeitung von Fisch neu – und setzt nicht nur in Sachen „nose to tail“ weltweit neue Maßstäbe, sondern auch, was die Reifung angeht.
Sein geradezu revolutionärer Ansatz führte 2018 zur Eröffnung seiner Fish Butchery, der ersten nachhaltigen Fischmetzgerei Australiens. Neben Einzelkunden begeistert Niland von dort aus auch die besten Restaurants der australischen Metropole für gereiften, gepökelten und geräucherten Fisch mitsamt seinen Innereien. Womit der smarte Spitzenkoch jedoch am meisten ausstrahlte, war – und ist – sein 2019 erschienenes Buch „Der ganze Fisch“ beim Prestel Verlag. Eines der wohl faszinierendsten Themen: die Lagerung, genauer, das Dry Aging von Fischen.
Was bewirkt die Reifung?
Zunächst einmal: Sein beflissenes Handwerk lernte der smarte Australier bei Granden wie Steve Hodges oder in der sagenumwobenen Versuchsküche von Heston Blumenthals Fat Duck. Ausgangspunkt seines Fischschaffens ist die Verarbeitung von Fleisch, wie sie Anfang der 2000er-Jahre vom englischen Großmeister Fergus Henderson in seinem legendären Londoner Restaurant St. John kultiviert – und 2004 im mittlerweile als Standardwerk gehandelten „From nose to tail“ verewigt wurde. Wortwörtlich übersetzt „von der Schnauze bis zum Schwanz“, steht dieser Grundsatz bekanntlich für die vollständige Verarbeitung des ganzen Tieres, damals eben vorzugsweise vom Schwein, mittlerweile aber auch vom Rind und anderen Tieren.
Jedenfalls: Diese neue Herangehensweise, die sich auf alte, fast schon vergessene Techniken berief und das gesamte Tier als ein Edelteil begriff, war es, die Niland für die aromatische Kraft von Fleisch sensibilisierte. Sosehr, dass ihm bald auch klar wurde, dass nicht nur Rind- und Schweinefleisch und Co. durch Reifung ihre ureigenen Aromen hochpotenzieren, sondern dass das auch für Fisch gilt. „Der wahre Grund dafür, dass die meisten Menschen Fisch am liebsten direkt frisch vom Boot kaufen und essen, ist, dass er nach so gut wie gar nichts schmeckt“, schreibt Niland in seiner mittlerweile etablierten Fischbibel.
Wie beim Fleisch müsse also auch der Fisch gekonnt reifen. Laut Niland zielt man dabei „allerdings nicht darauf ab, das Bindegewebe, das die Muskelfasern zusammenhält, aufzulösen, wie das bei Fleisch der Fall ist, sondern es geht vor allem darum, dass der Fisch möglichst viel unnötige Flüssigkeit verliert und so an Geschmack gewinnt“.
Ebenso aufschlussreich heißt es an anderer Stelle: „Durch das Reifen werden jene Aromen des rohen Fischs hervorgehoben, die man in den ersten drei Tagen nach dem Fang kaum schmeckt.“ So weit, so verständlich. Aber wie genau geht man dabei vor?
Wie reift der Fisch?
Beginnen wir gleich mit der unerwarteten Dekonstruktion eines Gemeinplatzes: Fisch sollte eigentlich nicht gewaschen werden. „Das heißt“, schreibt Niland, „idealerweise sollte der Fisch zum letzten Mal lebendig Kontakt mit seinem Element gehabt haben – und das sollte sich während der gesamten Verarbeitung nicht ändern.“ Dazu zählt natürlich auch das Entschuppen und das Ausnehmen. Danach ist der Fisch bereit, gekühlt und gelagert zu werden. Dabei gilt es eine Vielzahl an Parametern zu beachten. Niland verfügt in seinem Restaurant über eine eigene Kühlkammer mit statischer Kühlung. Etwa 25 Prozent des gesamten Kühlraums hat er für diese Kühlkammer geopfert. Da diese Kühlkammer durch Kupferspiralen gekühlt wird, verfügt sie über keinen Ventilator – damit ist eine gleichbleibende Lagerung und Reifung umso mehr gewährleistet. Und vor allem: Der Fisch trocknet nicht so schnell aus oder wird gar zäh.
Die Kühlkammer ist im Grunde genommen genauso simpel wie genial in zwei etwa gleich große Hälften aufgeteilt: die eine mit Schienen an der Decke, wo wiederum große Edelstahlhaken angebracht wurden, die andere mit maßgeschneiderten Regalen, die aus Abtropfblechen und darunterliegenden Abtropfschalen bestehen. Das bedeutet: Die großen Fische werden dort mit Edelstahlhaken an Schienen aufgehängt, während die kleinen auf eben jenen Abtropfblechen gelagert werden können. Damit verhindert man übrigens, dass die kleinen Fische zu „schwitzen“ beginnen. Denn liegt ein Fisch auf einer ebenen Fläche auf, verliert er durch diesen „Schwitzvorgang“ Flüssigkeit, die sich um ihn herum ansammelt – und dadurch die Hygienebedingungen stark beeinträchtigen könnte. Das gilt übrigens auch für das Lagern der großen Meeresbewohner.
Die Temperatur in der Kühlkammer sollte am besten zwischen minus und plus zwei Grad Celsius betragen. Bei höheren Temperaturen läuft man Gefahr, dass der Fisch verdirbt. Neben der Temperatur spielt auch die Luftfeuchtigkeit eine entscheidende Rolle. Wie der Terminus „Dry Aging“ bereits nahelegt, sollte die Luft ein bestimmtes Feuchtigkeitslevel nicht überschreiten. Am besten kann man das am Fisch selbst nachprüfen, wie Niland schreibt: „Es sollte sich auf keinen Fall ein Feuchtigkeitsfilm auf der Haut des Fischs bilden. Das ist zudem auch die Grundlage für extraknusprige Haut, wenn man den Fisch später anbrät oder grillt.“
So weit einmal zu den handwerklichen Hardfacts. Bleibt die Frage: Welche Fische eignen sich am besten dafür? Welche gar nicht? Und wie schmeckt das alles?
Welche Fische eignen sich fürs Reifen?
Laut Niland eignen sich fürs lange Dry Aging vor allem folgende Fischsorten: Spanische Makrele, Thunfisch und Schwertfisch. Das liegt vor allem daran, dass „sie sehr fettreich sind und ein dichtes Muskelgewebe haben – zwei Faktoren, die beim Reifen von Fisch sehr wichtig sind.“ Besonders deutlich wird das etwa beim Gelbflossenthun. Probiert man ihn vom dritten Tag der Reifung bis zu Tag 36, entwickle sich das Aroma, so Niland, „von leicht süß und zugleich salzig hin zu einem Aroma von Pilzen und Mojama (spanischer luftgetrockneter Thunfisch), und auch die Textur wird deutlich kompakter.“
Im Gegensatz dazu sind Fischsorten mit weniger fester Fleischstruktur – wie etwa der allseits beliebte Petersfisch, die Brasse oder der Flunder – für eine lange Reifung ungeeignet. Nach lediglich vier bis fünf Tagen in der Kühlkammer haben sie in der Regel ihr volles gustatorisches Potenzial genauso wie den Höhepunkt ihrer Textur erreicht. Es gibt auch Sorten, die nichts im Dry Ager zu suchen haben und schlicht und ergreifend ungeeignet für eine Reifung sind – egal, ob kurz oder lang: Hering, Wittling und Japanische Makrele, so Niland, „enthalten wenig Fett und dadurch auch eher wenig Feuchtigkeit, wodurch sie beim Reifen eher austrocknen“.
Was aber kann man aus all jenen Fischen machen, die sich fürs Dry Agen so hervorragend eignen – und selbst eingefleischten Fischliebhabern völlig neuartige Kulinarikerlebnisse verschaffen können? Nieland serviert in seinem Avantgarde-Restaurant beispielsweise ein geradezu himmlisches Gelbflossenthun-Tatar mit eingelegten Zwiebeln, Eigelb und Chicorée. Dafür verwendet Niland sieben bis neun Tage gereifte 250 Gramm vom Gelbflossenthun-Rückenfilet. In etwa ein Zentimeter große Stücke geschnitten, wird es in eine Schüssel gegeben und mit Schalotten, eingelegten Zwiebeln, Schnittlauch und Eigelb vermischt. Mit 60 Milliliter Olivenöl versehen, wird zum Schluss noch die Flüssigkeit dazugegeben, in der die eingelegten Zwiebeln lagen – bis der erwünschte Säuregrad des Thunfisch-Tatars erreicht wird. Meerflocken und Pfeffer runden das Ganze ab. Das ist nur ein Rezept, das verdeutlicht, was alles mit gereiftem Fischfleisch angestellt werden kann.
Eine regelrechte Tour de force liefert Niland in seinem Buch, in dem es neben detaillierten Beschreibungen seines beeindruckenden Fischhandwerks jede Menge Rezepte gibt, von denen sich auch spitzengastronomische Granden wie René Redzepi oder Grant Achatz regelmäßig inspirieren lassen. Fest steht: Der aufgeschlossene Gast von heute wird in Zukunft immer öfter gereiften Fisch serviert bekommen. Und, wer weiß, vielleicht auch erst im Restaurant zum ersten Mal erfahren, wie Fisch wirklich schmecken kann.