Zuerst verleiht ihm Königin Elizabeth den Order of the British Empire für seine Verdienste um die britische Gastronomie. Und dann wird dem Gründer des legendären, seit 2004 durchgehend mit drei Sternen ausgezeichneten Restaurants The Fat Duck im englischen Städtchen Bray eine noch größere Ehre zuteil: Das britische Amt für Heraldik gewährt Heston Blumenthal das Recht, ein eigenes Wappen zu tragen. Der heute 58-jährige Engländer entscheidet für eine Ente mit drei Lavendelstängel im Maul. Darunter ein Wappenspruch, der seine Kochphilosophie – um nicht zu sagen: sein Leben – bestens zusammenfasst: „Question everything“. Hinterfrage alles.
Zwischen Kochjacke und Laborkittel
Der gebürtige Londoner zählt zu den bedeutendsten Innovatoren der Molekularküche. Sein Drang, traditionelle Konventionen gnadenlos zu hinterfragen, macht ihn nicht nur zu einem der Spitzenköche der Welt, nein, sie führt ihn auch zur intensiven Zusammenarbeit mit Lebensmittelwissenschaftlern und Chemikern. Das Männermagazin Esquire nennt Blumenthal deshalb „den verrückten Wissenschaftler der britischen Küche“, dessen „Kochjacke gleichzeitig ein Laborkittel“ ist. Und, tatsächlich findet seine Suche nach Perfektion den Respekt der Wissenschaft. Heston Blumenthal wird als einziger Koch zum Ehrenmitglied der Royal Society of Chemistry ernannt, dem britischen Berufsverband der Chemiker.
Dabei ist Heston Blumenthal nicht einmal gelernter Koch. Sondern ein Autodidakt, der seiner Neugier und seiner Leidenschaft folgt. Einer Leidenschaft, die sich letztlich auch in seinem Erfolg widerspiegelt, denn seine Lokale sind derzeit mit insgesamt sechs Michelin-Sternen ausgezeichnet. Den Beginn seiner Geschichte und Startpunkt seiner Karriere als Ausnahmegastronom könnte man gern als „schicksalshaft“ beschreiben. Statt wie üblich an der englischen Südküste machen die Blumenthals im Sommer 1982 Urlaub am europäischen Festland – und speisen erstmals in einem Sterne-Restaurant, dem L’Oustau de Baumanière in der südfranzösischen Gemeinde Les Baux-de-Provence.
Heston Blumenthal kann sich noch heute lebhaft an die vielfältigen Eindrücke erinnern, die sein damals 16-jähriges Ich für immer verändern sollten: „Das Zirpen der Grillen, der Geruch des Lavendels im Sonnenuntergang, das Klirren der Gläser, das Aufschneiden der Lammkeule, wie die Kellner Saucen in Soufflés gegossen haben. Und das in einer Zeit, als es Olivenöl in England nur in der Apotheke gab, um sich damit die Ohren auszuputzen! Es war so anders als die Fish & Chips, die bis dahin den größtmöglichen Genuss darstellten.“
Vanilleeis als Inspiration für kulinarische Innovation
Den Geschmack von Rotbarbe mit Sauce Vierge, Lammkeule in Blätterteig mit grünen Bohnen und Kartoffelgratin sowie der abschließenden Crêpes Baumanière noch auf der Zunge, beschließt Heston Blumenthal, Koch zu werden. Von einer formellen Ausbildung hält der kampfsportbegeisterte Teenager nichts. Lieber verschlingt er in Mutters Küche französische Kochbücher, die er sich selbst mittels Wörterbuchs mühselig übersetzt.
Und legt damit den Grundstein für sein späteres kulinarisches Schaffen, wie er sich später erinnert: „Wenn du 15 Kochbücher anschaust, liest du 15 verschiedene Rezepte für Vanilleeis. Ich habe mir gedacht: Warum gibt es so große Unterschiede? Ist es, weil es die Köche selbst so gelernt haben? Oder spielen diese Zutaten eine Rolle über den reinen Geschmack hinaus?“
Immer auf der Suche nach Innovation und Inspiration beginnt Heston Blumenthal sich in die Zubereitung von Eiscreme zu vertiefen. „In einem italienischen Kochbuch aus dem 19. Jahrhundert habe ich ein Rezept für ein Parmesan-Eis gefunden und gedacht: ‚Ah, warum denken wir bei Eis eigentlich immer daran, dass es süß sein muss?‘ Ich habe also ein Krabben-Risotto entwickelt, mit einer Schicht Passionsfrucht-Gelee und einer Reduktion von rotem Paprika. Daraus wurde dann etwas, das sich am besten als Mittelding zwischen Krabbensorbet und Krabbeneiscreme beschreiben lässt.“
21-Stunden-Tage
Mit Ausnahme eines einwöchigen Praktikums in Raymond Blancs Le Manoir aux Quat’ Saisons in der Nähe Oxfords sammelt der junge Blumenthal keinerlei Gastronomie-Erfahrung. Aber er verfolgt ein klares Ziel, dem er sich mit Gelegenheitsjobs zehn Jahre lang annähert: ein eigenes Restaurant, in dem er Ideen wie seine Krabbeneiscreme kompromisslos umsetzen kann.
Er arbeitet als Schuldeneintreiber, Büromaterialienverkäufer und Buchhalter in der Firma seines Schwiegervaters, alles „glamouröses Zeug“, wie er später ironisch festhält. „Nach regulären Acht-Stunden-Tagen war ich erschöpft und todmüde. Im The Fat Duck habe ich zu Beginn jeden Tag 20, 21 Stunden gearbeitet, war aber nie erschöpft. Die Zeit ist unglaublich schnell vergangenen und anders als im Büro habe ich mich keine Sekunde gelangweilt.“ Vielleicht, weil er der erste Gastronom ist, der in seiner Küche mit flüssigem Stickstoff experimentiert?
Blumenthals Restaurants
Das erwähnte The Fat Duck hat 1995 in der kleinen englischen Ortschaft Bray mit nur einem Tellerwäscher als einzigen Mitarbeiter eröffnet. Und es ist noch heute das Zentrum von Blumenthals Gastro-Imperium. Ein Imperium, das Lokale mit unterschiedlichen Charakteristika umfasst: Das zwanglose Dorfpub The Hinds Head in direkter Nachbarschaft zum Stammhaus in Bray ist ebenfalls mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet. The Perfectionists‘ Café sorgt am Londoner Flughafen Heathrow für eine Oase des Fast Food auf höchstem Level. Dazu eröffnet Heston Blumenthal neben dem The Dinner by Heston Blumenthal (zwei Sterne) im Mandarin Oriental Hotel am Londoner Hide Park Anfang 2024 eine Dependance des luxuriösen Hotel-Konzepts im Atlantis The Royal auf Dubais künstlicher Inselgruppe The Palm.
Das umgedrehte Menü im Fat Duck
Im Fat Duck finden mittags und abends 42 Gäste an 14 Tischen Platz; das elfgängige Menü – umrahmt von einem durch „Alice im Wunderland“ inspirierten Geschichtenkonzept – umfasst unter anderem Blumenthals legendäres Schnecken-Porridge. Und es kann auf Wunsch, wir erinnern uns: „Hinterfrage alles“, auch in umgekehrter Reihenfolge genossen werden, vom Süßspeisenmix „Like a Kid in a Sweet Shop“ hin zum „Nitroaperitif“.
Von Anfang an setzt Blumenthal in seinem Stammhaus, das 2005 zum besten Restaurant der Welt gekürt wurde, voller Begeisterung auf Innovationen. Sous Vide nennt er gar „den größten Fortschritt in der Kochtechnologie seit Jahrzehnten“. Doch der beliebte TV-Star und Autor („In Search of Perfection“) entwickelt darüber hinaus auch eigene Ideen, um seine Vorstellung vom „multi-sensorischen“ Erlebnis besser umsetzen zu können: „Für mich hat Kochen nichts mit mathematischen Formeln zu tun, es hat mit Berühren, Ideen und Geschmack zu tun. Die Kenntnisse aus der Kochwissenschaft erlauben es uns aber, an Neues zu denken und in jeder Hinsicht präzise zu sein.“
Heston Blumenthal: Entdecker des Food Pairings
So bereichert Heston Blumenthal die Welt der Gastronomie mit der Theorie (und Praxis) des „Food Pairings“ – weil er unbedingt verstehen will, warum Kaviar und weiße Schokolade geschmacklich gar so gut zusammenpassen. François Benzi vom Schweizer Duftstoffhersteller Firmenich findet im Labor mittels Gaschromatografie und Massenspektroskopie die Antwort: Sowohl Kaviar als auch weiße Schokolade enthalten eine Substanz namens Trimethylamin – der chemische Grund, warum zwei auf den ersten Blick unvereinbare Lebensmittel am Gaumen so erstaunlich harmonieren.
Die gezielte Analyse und Kategorisierung einzelner Geschmackskomponenten lässt Großbritanniens Koch des Jahres 2004 allerdings auch nicht als vollkommen gelten. Ja, Food Pairing sei ein zweckdienliches Werkzeug, sagt Heston Blumenthal, dürfe aber keineswegs die kulinarische Inspiration des Kochs in den Schatten stellen: „Das molekulare Profil einer einzelnen Zutat ist so komplex, dass es selbst dann, wenn sie mehrere Verbindungen mit einer anderen gemeinsam hat, immer noch genauso viele Gründe gibt, warum sie nicht zusammenpassen…“
Das Leben ist schön
Heston Blumenthal ist vierfacher Vater. Seinen drei erwachsenen Kindern aus erster Ehe (Zack, Jessie und Joy) folgte 2018 Töchterchen Shea-Rose. Sein Leben orientiert sich nicht nur der Prämisse, stets alles infrage zu stellen. Über dem 300 Jahre alten Kamin in seinem Dorfpub findet er einen Sinnspruch, der auf ihn ebenfalls sehr kraftvoll wirkt: „Fear knocked on the door, faith answered and no one was there“ – übersetzt soviel wie: „Als die Angst anklopfte und der Glaube öffnete, stand niemand vor der Tür.“ Und doch, sagt Blumenthal, habe auch Angst etwas Gutes: „Wir brauchen sie. Denn Angst gibt uns erst die Gelegenheit, über sie und uns selbst hinauszuwachsen“
Dass er im persönlichen Umgang nicht immer die einfachste Persönlichkeit sein mag, ist ihm bewusst – auch wenn er lange Zeit den Grund dafür nicht festmachen kann. In einem beeindruckend offenherzigen Interview im Rahmen der „Global ADHD Conference“ sprach Blumenthal 2022 über sein zuerst selbstdiagnostiziertes und mittlerweile medizinisch bestätigtes Aufmerksamkeitsdefizit. Und – unter Tränen – über seine Selbstmordgedanken: „Ich hatte all diese Auszeichnungen, all diese Titel und Ehrungen. Aber ich hatte das Gefühl, dass das alles nicht genug sei. Ich hatte meine Orientierung, meinen inneren Kompass verloren. Ich lag auf meiner Couch und war so verloren. Hätte ich in diesem Moment eine Pistole gehabt – ich hätte sie verwendet.“
Diese negativen Gedanken habe er längst wieder in positive Energie verwandelt, sagt Heston Blumenthal, der dreimal täglich Kraftübungen absolviert und sich körperlich in Bestform fühlt. „Jeden Tag denke ich mir heute: Oh, mein Gott, wie schön ist dieses Leben! Aber wäre ich nicht durch diese schwere Zeit gegangen, wäre ich nicht da, wo ich heute bin. Mein Leben war noch nie so wertvoll, so erfüllt. Ich würde nichts an dieser Zeit, an diesen Erfahrungen ändern wollen – denn ich bin immer noch hier. Mehr noch: Ich fange jetzt erst so richtig an!“