„Brutal“, sagt David Muñoz. Etwas verschmitzt zwar. Aber nur ein bisschen. Er meint es schon ernst, dieses Wort, das seine Küche auf den Punkt bringen soll. Sehr ernst sogar. Warum? Muñoz – Irokesenschnitt, gepiercte Ohren, buntes Muskelshirt – denkt kurz nach. „Das kann ich in einem kurzen Satz nicht erklären“, sagt er. Tatsächlich: Seine Antwort ist nicht nur ausführlich, sondern auch ausschweifend. Und sie macht durchaus Sinn. Nur: Um sie wirklich zu verstehen, muss man wissen, wer David Muñoz ist. Wie alles begonnen hat. Und wie es dazu gekommen ist, dass er so kocht, wie er kocht.
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David Muñoz: Koch von Welt
Begeben wir uns ins Madrid der frühen 1990er-Jahre. Im Gegensatz zu heute ging es dort gastronomisch ziemlich ruhig zu. Das ist insofern erstaunlich, als dass das „Spanische Küchenwunder“ bereits in vollem Gange war. Ferran Adrià hatte 1990 mit seiner bahnbrechenden Molekularküche im legendären El Bulli den zweiten Stern geholt, quer durchs ganze Land herrschte gastronomische Aufbruchsstimmung.
Am 14-jährigen David ging das alles nicht spurlos vorbei. Obwohl seine Eltern nichts mit Gastronomie am Hut hatten, brannte er fürs Kochen. Und hatte in Abraham Garcias Madrider Restaurant Viridiana, in das ihn seine Eltern öfter mitnahmen, ein Schlüsselerlebnis „Was ich sah, war Folgendes: Ein Koch in seinem eigenen Restaurant, der sich selbst und seinen Küchenstil verwirklicht. Ich wusste: Genau das ist es, was auch ich eines Tages machen will.“
Muñoz brachte die Pflichtschule zu Ende, meldete sich in der Hotelfachschule im nahegelegenen Torrejón de Ardoz an.
Dort drückte er tagsüber die Schulbank – und arbeitete anschließend bis spät nachts in unterschiedlichsten Madrider Restaurants. Die Hotelfachschule machte ihn mit den klassischen französischen Techniken vertraut, während er nachts die Basis der spanischen Hausmannskost erlernte. Das war’s aber auch schon.
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Kein Wunder also, dass dieser lernhungrige Teenager mehr wollte. Also ging er dorthin, wo es Anfang der 2000er gastronomisch wohl am buntesten zuging: Nach London. Im Hakkasan, das der zeitgemäßen kantonesischen Küche gerade zu Weltruhm verhalf, sowie im japanischen Erfolgskonzept Nobu, lernte Muñoz die Vielfalt nichteuropäischer Aromen kennen. Aber auch, dass jede Küche, egal ob kantonesisch, japanisch, französisch oder spanisch, letztlich strengen Regeln gehorcht. Und genau diese wollte er brechen. „Kochen ist für mich: Freisein und Tun und Lassen, was einem gefällt“, sagt Muñoz. Und da das damals, Mitte der 2000er-Jahre, niemand so sah, machte er eben sein eigenes Restaurant auf. In Madrid, natürlich.
Das Restaurant DiverXO: Madrids Sensation
Wobei, so natürlich war das eigentlich nicht. „Meine Freunde sagten, das wird nichts“, sagt Muñoz. Madrid sei die falsche Stadt für ein Restaurant wie jenes, das ihm vorschwebte. Ein Restaurant, in dem das Essen etwas durch und durch Kreatives, Performatives, Grenzüberschreitendes, Spielerisches ist. Das weder spanisch, noch asiatisch, noch französisch, indisch oder sonst was ist. Aber trotzdem geschmacklich auf Küchentraditionen der ganzen Welt verweist.
Im Nachhinein wissen wir: Muñoz‘ Freunde haben sich geirrt. Und wie. Keine drei Jahre nach der Eröffnung im Jahr 2010, erhielt das DiverXO seinen ersten Stern. Zwei Jahre darauf folgte der zweite, und wieder zwei Jahre darauf der dritte. Madrid, die bis dahin ach so fade Stadt, die im Vergleich zu San Sebastian oder Barcelona als Fine-Dine-Wüste galt, war plötzlich zu einer Fine-Dine-Destination geworden. Und das dank einer Küche, die sich damals wie heute einem konkreten Label entzieht. Drei Sterne für eine geradezu anarchische und irgendwie namenlose Küche? Für den Guide Michelin damals eine ziemlich ungewohnte Situation. Zehn Mal, heißt es, seien die Tester ins DiverXO eingekehrt, weil sie nicht glauben konnten, dass eine so wirre Küche tatsächlich Drei-Sterne-Niveau hat. Doch das tut sie, bis heute. Überhaupt: Mehr denn je gewinnt man heute den Eindruck, als würde Muñoz’ Küche gerade wieder neu entdeckt. Woran liegt das?
Anti-Fusion-Koch David Muñoz
Wagen wir einen Erklärungsversuch. Da wäre zum einen der Anspruch, ein Restaurant als Gesamterlebnis zu konzipieren. Betritt man das DiverXO, ist man in einer anderen, sehr eigenen Welt. Im fast schon verstörend weiß gehaltenen Raum in Star-Trek-Ästhetik tummeln sich Skulpturen fliegender Schweinchen, die heutzutage nicht nur instagrammable sind, sondern auch Muñoz Grundphilosophie veranschaulichen, die da lautet: Alles ist möglich. In einer Zeit, in der jedes Restaurant eifrig darauf bedacht ist, mit einer streng definierten Küchenlinie zu punkten, hat dieser Zugang für viele plötzlich wieder an Reiz gewonnen. Gerade die strengregionalen Küchenchefs Skandinaviens scheinen so etwas wie eine Antithese zu dieser ausschweifenden, freiheitsliebenden Küche zu sein. Vielleicht hat die Neugier viele dieser nordischen Großmeister in letzter Zeit auch gerade deswegen ins DiverXO verschlagen?
Muñoz‘ Gerichte jedenfalls haben nichts mit regionaler Radius-Orthodoxie oder reduziertem Purismus zu tun. Ganz egal, welcher der 25 Gänge vom „Flying Pigs“-Menü serviert wird: Eine solche Vielzahl an bunt zusammengewürfelten Techniken, Serviermethoden und Geschirrarten hat man selbst als umtriebiger Foodie noch nie gesehen. Das Gericht aus gegrillter Schweinehaut mit Schwarzer-Sesam-Brioche hat mittlerweile Klassikerstatus. Genauso das Spanferkel mit Karotten-Dim-Sum oder die Ochsenschwanz-Suppe.
Doch Muñoz’ Komfortzone ist das Verstörende, Überraschende, für den einen oder anderen Gast auch schlichtweg Überfordernde: Da kann eine frittierte Garnele gerne einmal von der Decke an einem Nylonfaden runterhängen. „Butter Chicken Masala“ aus Froschschenkeln, eingelegter Minze, frittiertem Fladenbrot aus Linsen und süßsäuerlichem Chutney bestehen. Der Gast aufgefordert werden, aufzustehen, um vom Kellner in schwarzer Uniform einen Löffel in den Mund gesteckt zu bekommen. In einem Dessert ein himmlisch zartgegarter Babytintenfisch versteckt sein. Oder die Haut einer Riesengarnele gar als einzelnes Gericht gereicht werden, das eher zum Trinken als zum Essen gedacht ist.
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So vielseitig und weltenbummlerisch Muñoz’ Kochkunst auch wirkt – vom Begriff Fusion will der Starkoch nichts wissen. Er erklärt auch warum: „Fusion-Küche kombiniert beispielsweise thailändische Geschmackswelten mit spanischen Produkten. Das kann toll sein, wenn es gut gemacht ist, keine Frage. Aber das machen wir hier nicht. Ich versuche vielmehr, aus traditionellen Küchen neue Ideen zu entwickeln, die eine völlig eigene Handschrift besitzen. Das ist etwas ganz anderes als Fusion.“ Etwas Brutales also? Bringt dieses Wort David Muñoz’ Küche wirklich am besten auf den Punkt? Nein. Gibt es ein anderes Wort, das seiner Küche gerecht würde? Nein. Macht aber nichts: Muñoz‘ Küche braucht kein Label. Diese Küche spricht ihre eigene Sprache – nämlich die der kompromisslosen Freiheit.