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Carlos Gaytán: vom Tellerwäscher zum (Michelin-)Star

Von: Lesezeit: 5 Minuten

Als erster mexikanischer Koch, der jemals mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet wurde, schrieb Carlos Gaytán Gastronomiegeschichte. Heute gilt er als wichtigster Botschafter der mexikanischen Küche. Wie es das Ausnahmetalent von ganz unten nach ganz oben geschafft hat? Eine Hollywood-Story.

Das ist die Geschichte eines amerikanischen Traums. Mit zwei Ausnahmen: Erstens beginnt diese Geschichte nicht in Amerika. Und zweitens musste ihr Protagonist im entscheidenden Moment aus Amerika weg, damit sein Traum sich auch wirklich erfüllte. Warum? „Diese Antwort ist etwas länger“, sagt Carlos Gaytán.

In den USA ist der gebürtige Mexikaner ein Star: Er ist regelmäßig in TV-Koch-Shows mit Millionenpublikum zu sehen und führt ein über alle Maßen gehyptes Restaurant in Chicago. Als erster Mexikaner, der jemals mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet wurde, schrieb er 2013 internationale Gastronomiegeschichte. Und tut das in seinem Restaurant Tzuco auch weiterhin: Dort entrümpelt er die mexikanische Küche von all ihren Klischees. Und zeigt, dass sein Heimatland mit vier Klima- und genauso vielen Zeitzonen mehr zu bieten hat als Tacos und Tortillas. Damit hat er in den USA einen solchen Erfolg, dass er bald auch im kalifornischen Disneyland in aller Munde sein wird. Doch wir greifen vor.

 

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Ein Besuch als Startschuss seiner Karriere

Carlos Gaytáns Geschichte beginnt in einer mexikanischen Kleinstadt namens Huitzuco. 1970 dort geboren, spielten Lebensmittel im Familienleben schon früh eine prägende Rolle. „Meinem Großvater half ich nach der Schule immer dabei, die Felder zu bestellen. Getreide, Erdnüsse, Wassermelonen, Bohnen – er pflanzte alles an, was dort gedeiht“, erinnert sich Gaytán. Seinen Vater begleitete er regelmäßig auf die Jagd. „Er zeigte mir nicht nur, wie man Wild schießt. Sondern auch, wie man es mitten in der Natur ausnimmt, zuschneidet und die einzelnen Cuts über offenem Feuer zubereitet.“

Bis heute, sagt Gaytán, wüssten viele Menschen außerhalb Mexikos nicht, dass Mexiko über einen beträchtlichen Wildbestand verfügt. „Viele staunen auch, wenn ich ihnen von den vielen Pilzarten erzähle, die in Mexiko heimisch sind“, sagt er. Prägend für sein kulinarisches Gespür war zudem seine Mutter: „Wir hatten wenig Geld“, sagt er, „deswegen konnte sie nur selten auf dem Markt einkaufen gehen. Stattdessen pflückte sie alles, was Wälder und Wiesen hergaben, und ließ ihrer Kreativität zu Hause freien Lauf. Sie ist bis heute eine Autorität für mich, wenn es um Geschmack geht.“

So viel die idyllische Kleinstadt mit ihren Bergen, Feldern und Wäldern auch hergab: Dem jungen Carlos wurde sie bald zu eng. Viel zu eng. Was tun in diesem Nest? Ewig den Eltern und Großeltern unter die Arme greifen? „Ich wollte weg von dort“, sagt Carlos Gaytán. Wohin, das wusste er selbst jedoch auch nicht so genau. Bis einer seiner Cousins aus Chicago zu Besuch kam.

 

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Trügerischer Höhepunkt

„Er sagte, ich könne mit ihm kommen. Also packte ich meinen Rucksack und ging ohne einen Cent in der Tasche mit ihm nach Chicago.“ Aber nicht nur das Geld fehlte, auch ein Visum. Schnell stellte der junge Carlos im Land der unbegrenzten Möglichkeiten fest, dass die Möglichkeiten, Geld zu verdienen, nur sehr beschränkt waren. „Ich war de facto illegal hier und musste aufpassen, nicht aufzufliegen.“ Er begann, als Tellerwäscher zu arbeiten. Im Sheraton North Shore Hotel unweit von Downtown Chicago lernte er andere Mexikaner kennen. „Auch solche, die seit 20 Jahren als Tellerwäscher arbeiteten. Da schwor ich mir: Das wird mir nicht passieren.“

Also begann er, nach der Arbeit als Tellerwäscher in unterschiedlichsten Restaurants zu arbeiten. „Das waren unbezahlte Praktika. Aber mir ging es darum, etwas zu lernen. Ich wollte kochen. Und irgendwann einmal dafür bezahlt werden.“ Es war die Zeit, in der Gaytán die klassische französische Küche kennenlernte. Als unbezahlter Praktikant in einer Handvoll Restaurants brachte er sich bei, wie man einen Fond ansetzt, was eine Beurre Blanc ist und warum weiße Trüffel roh gegessen wird und schwarze Trüffel nicht.

Carlos Gaytán beschert Mexiko den ersten Stern

Sein Ehrgeiz machte sich bald bezahlt: Er wurde Gardemanger im Union League Club of Chicago, einem elitären Privatklub, wie es sie in den USA bis heute so viele gibt. Und nur wenig später übernahm er im Bistro Margot, dem Chicagoer Hotspot für französische Traditionsküche, den Posten als Chef de Cuisine.

 

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Das waren Jahre des ungebremsten Aufstiegs. Und so gewann der ehemalige Tellerwäscher immer mehr Selbstvertrauen. So viel, dass er eines Tages beschloss, es nun auf eigene Faust zu probieren. Im Mai 2008 eröffnete Carlos Gaytán sein erstes eigenes Restaurant. Im Mexique – der Name war Programm – verlieh er seinen mexikanischen Wurzeln kulinarischen Ausdruck, indem er sie voll und ganz à la française interpretierte. Fünf Jahre später verlieh ihm der Guide Michelin dafür seinen ersten Stern. Damit war Carlos Gaytán der erste Mexikaner, der diese prestigeträchtige Auszeichnung zugesprochen bekam.

Genau hier könnte die Geschichte von Gaytáns amerikanischem Traum zu Ende sein. Er hatte mehr erreicht, als er sich jemals hatte träumen lassen. Aus dem armen Bauernjungen aus Huitzuco war ein erfolgreicher Sternegastronom in Downtown Chicago geworden, zu dem Foodies aus aller Welt pilgerten. Alles war perfekt. Oder? „Nein, das war es nicht“, sagt Gaytán heute. Er stürzte in eine tiefe Krise. Und schloss von einem Tag auf den anderen sein Restaurant.

Gaytáns Weg aus der Sinneskrise

Was war passiert? „Es fühlte sich nicht mehr richtig an – und zwar in vielerlei Hinsicht“, erklärt Gaytán. Die klassische Fine-Dine-Linie engte ihn plötzlich ein. War das alles wirklich noch er? Kochte er mexikanische Gerichte, die französisch inspiriert waren? Oder doch französische Gerichte, die mexikanisch inspiriert waren? „Ich wusste es nicht. Ich wusste gar nichts mehr.“ Was er hingegen wusste, war, dass er zurück nach Mexiko wollte. Zurück nach Hause, um sich auf seine Wurzeln zurückzubesinnen. Und um herauszufinden, wie es weitergehen könnte.

 

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In Mexiko begann er herumzureisen. In jedem Restaurant, das ihm interessant schien, half er ein paar Tage mit. „Da wurde mir klar, wie wenig ich eigentlich über die mexikanische Küche wusste. Ich hatte viel nachzuholen.“ Ein Jahr lang reiste und kochte er quer durch Mexiko. Vor allem aber begann er langsam, aber sicher ein Gespür dafür zu entwickeln, was er wirklich wollte: ein Restaurant, in dem es genauso zugehen sollte wie in all diesen Restaurants, die er neu entdeckte. „Mehrere Teller in der Mitte des Tisches, und jeder nimmt, was ihm gefällt. Ein echtes, mexikanisches Sharing-Konzept – das wollte ich!“ Dann ging alles Schlag auf Schlag: Gaytán ging zurück nach Chicago – und eröffnete innerhalb weniger Monate das Tzuco.

Gerichte am Puls der Zeit 

Dort bringt er Foodies aus aller Welt die Vielfalt der mexikanischen Küche näher. Zum Beispiel mit dem sogenannten Cocinita Pibil, einer Spezialität aus der Region Yucatán. Vereinfacht gesagt handelt es sich dabei um eine mexikanische Variation von Pulled Pork. Gaytán mariniert dafür eine Schweinshaxe in einer Paste aus selbst gemachtem Ananasessig, Zimt, Avocadoblättern, Kümmel, Guajillo-Pfeffer, Oregano, Mandeln und Knoblauch. Dann wickelt er die marinierte Haxe in Bananenblätter und lässt sie vier Stunden im Profi-Ofen schmoren. Gereicht wird dieses herzhafte, im Mund wie Butter zergehende Stück Fleisch mit schwarzen Bohnen, einer würzig-scharfen Tatemada-Salsa und eingelegten roten Zwiebeln.

Cochinita Pibil von Carlos Gaytán

Image: Neil Burger Photography

Ein weiterer Renner aus dem Tzuco ist der Red Snapper: Den Fisch reibt Gaytán mit einer Aioli aus getrocknetem rotem Paprika und Nori-Algen ein. Anschließend kommt dieser fettig-jodige Aromenkracher in den Holzofen. Das ergibt ein unglaublich rauchiges Aroma, das mit dem saftig-mageren Fleisch des Roten Schnappers wunderbar harmoniert. Dazu serviert Gaytán Fideos Seco, also die typisch mexikanische Pasta. Und zwar mit Sauerrahm, Avocado und Queso Blanco, dem in Mexiko so verbreiteten Käsedip. „Wer mag, bekommt das mit Tortillas serviert, auf die geben wir schwarze Bohnen und Käse. Das gibt dem Gericht den Extrakick Knusprigkeit“, sagt Gaytán. Und zeigt damit, dass er mit seiner neuen Art der mexikanischen Küche nicht zwanghaft versucht, auf Klassiker wie Tortillas zu verzichten.

Differenziertheit als Grundzutat

Carlos Gaytáns Vision einer tiefverwurzelten, dabei aber breitgefächerten mexikanischen Küche trifft den Nerv der Zeit: Jenseits von Kulinarik-Klischees, die jahrzehntelang funktionierten, heute aber mit zunehmender Skepsis betrachtet werden, vermittelt sein Restaurant Tzuco ein differenziertes Bild der mexikanischen Küche. Und könnte dabei authentischer nicht sein.

 

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Kein Wunder also, dass Gaytán noch vieles vorhat: Im Jahr 2024 eröffnet der Starkoch drei Restaurants im kalifornischen Disneyland – und wird damit das kulinarische Gesicht von einem der bekanntesten Themenparks der Welt. „Außerdem möchte ich bald an der kalifornischen Küste ein Restaurant eröffnen, um das Thema des mexikanischen Seafoods sichtbarer zu machen“, sagt er. Solange Carlos Gaytán seinen amerikanischen Traum lebt, ist die mexikanische Küche also auf dem besten Weg, endlich in all ihrer Pracht wahrgenommen zu werden. Und das hoffentlich auch bald über die Grenzen Amerikas hinaus.

Kurzportrait Carlos Gaytán

1970 in der Kleinstadt Huitzuco geboren, ging Carlos Gaytán mit 20 Jahren nach Chicago. Dort schlug er sich ohne Visum als Tellerwäscher durch. In seiner Freizeit machte er unbezahlte Praktika in einer Vielzahl an Restaurants und lernte so das Handwerk der französischen Kochkunst. 2008 eröffnete er sein erstes Restaurant, das Mexique. Für seine mexikanisch-französische Küche erhielt er dort als erster Mexikaner einen Michelin-Stern. Das Restaurant schloss er 2017. Ein Jahr darauf eröffnete er sein neues Flagship, das Tzuco. Dort dreht sich alles um die authentische mexikanische Küche. Daneben führt er, ebenfalls in Chicago, das Tales of Carlos Gaytán, eine Art Chef’s Table mit zwölf Sitzplätzen, das nur zu bestimmten Anlässen geöffnet hat. Außerdem gehört ihm das Restaurant Ha an der Riviera Maya in Mexiko.

 

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