Es sind ihre wachen Augen, die einem sofort auffallen. Wissbegierig fokussieren diese im Gespräch das GegenĂĽber, als wollten sie hinter dessen Fassade blicken. Aus ehrlicher Neugierde. Und so kommt es, dass man mit Karime Lopez nur wenige Worte gewechselt haben muss, um sie in Erinnerung zu behalten. Und um zu wissen, dass von dieser kleinen SĂĽdamerikanerin wahrlich GroĂźes zu erwarten ist. Besonders frĂĽh erkannt hat das jedoch einer, der selbst zu kulinarischen Heldentaten fähig ist: Takahiko Kondo, langjähriger Sous Chef in Massimo Bottura’s DreiÂsterner Osteria Francescana im italienischen Modena. „Hätten wir uns nicht getroffen, wäre mein Leben gänzlich anders verlaufen“, sagt Karime Lopez heute. Ein Satz, der sich auf weit mehr als bloĂź ihre seither spektakulär verlaufene Karriere bezieht: Seit der ersten Begegnung der beiden – im Zuge eines Koch-Happenings in New York – sind acht Jahre vergangen. Karime und ihr Mann Takahiko | Image: Gucci Osteria Heute sind Karime Lopez und Takahiko verheiratet. Haben eine Tochter. Wohnen in Florenz. Und Karime Lopez ist als KĂĽchenchefin von Massimo Botturas Gucci Osteria eine der aktuell schillerndsten Köchinnen der Welt. 2019 etwa war sie Italiens Female Chef of the Year, 2020 holte sie als erste mexikanische Frau ĂĽberhaupt einen Michelin-Stern, und in Mexiko ist sie mittlerweile eine allgegenwärtige KĂĽchen-Ikone. Wenn man also die Redewendung „Liebe geht durch den Magen“ neu definiert haben möchte – dies wäre der beste Anlass dafĂĽr. Selten hat das Zusammenspiel aus Liebe und höchster kulinarischer Handwerkskunst so viele andere Menschen glĂĽcklich gemacht, wie das dieser beiden Menschen. Doch es bedarf freilich weit mehr als zwischenmenschlicher Zuneigung, um einen derartigen Sprint an die Weltspitze, wie es Karime Lopez getan hat, hinzulegen. So wundert es kaum, dass die ersten Zutaten ihres offensichtlichen Erfolgsrezepts in ihrer Kindheit zu finden sind. Schon als junges Mädchen stand sie stets in der KĂĽche ihrer Mutter in Mexiko, um mit ihren neugierigen Augen jeden Handgriff zu erfassen und verstehen zu lernen. Sie half ihr bald beim Zubereiten der Familienmahlzeiten. Lernte, wählerisch bei den Zutaten zu sein. Und dass man auf den lokalen Märkten alles bekam, um köstliche Kostbarkeiten auf den Tisch zu zaubern. So wirkt es im RĂĽckspiegel betrachtet nahezu logisch, dass Karime gleich nach der Schule mit zarten 18 Jahren auszog, um die kulinarische Hauptstadt unseres Planeten zu erobern – sie ging nach Paris. Allerdings vorerst nicht, um ihre KochkĂĽnste zu perfektionieren, sondern vielmehr um an der Sorbonne Kunst zu studieren. Image: Gucci Osteria Malen, Zeichnen, die Beschäftigung mit Formen und Farben – viel Genaueres darĂĽber, was sie in ihrem Leben machen wollte, wusste die gebĂĽrtige Mexikanerin damals nämlich gar nicht. „Ich wohnte in der Nähe einer Boulangerie, an der ich immer auf dem Weg zur Uni vorbeiging und stehenblieb. Die Schaufenster mit den unterschiedlichsten Pâtisserien faszinierten mich unheimlich. Das waren Bilder, die ich aus Mexiko so einfach nicht kannte. All diese kleinen Kunstwerke gingen mir nicht mehr aus dem Kopf.“ Das waren wohl jene Tage, in denen sich die ersten beiden Bausteine ihrer Karriere fanden: Die Faszination fĂĽr Kunst hatte sie an einen Punkt gefĂĽhrt, an dem sie dank des von ihrer Mutter vermittelten Basiswissens verstand, dass das Handwerk des Kochens die fĂĽr sie schönste Kunstform ist. Und so fĂĽhrte sie ihr Lebensweg wieder weiter – wieder weg von Paris: „Ich wollte so tief wie möglich in die Kochmaterie eintauchen, das war nur in meiner Muttersprache möglich“, erinnert sie sich. Drei Jahre lang lernte sie das Einmaleins der gehobenen Kulinarik – im spanischen  Sevilla. Und begann im Anschluss gleich an einer der prestigeträchtigsten Adressen Spaniens: dem Dreisterner El RacĂł de Can Fabes des spanischen GroĂźmeisters Santi Santamaria. FĂĽr Lopez war das gleichsam eine harte wie auch gut investierte Zeit. Die Hierarchie, der harsche Umgangston, die kompromisslose Detailverliebtheit des Chefs. „Es war eine neue Welt fĂĽr mich“, sagt Lopez. „Das machte diese Zeit auch so schwierig.“ Und doch: RĂĽckblickend betrachtet findet Lopez, ist sie nie so sehr ĂĽber sich selbst hinausgewachsen wie damals. Image: ChefAlps | Nadine Kaegi Kein Wunder, dass sich die damals 25-Jährige nach dieser Feuertaufe alles zutraute: Sie arbeitete in den besten Restaurants der Welt. Dem Mugaritz, dem Pujol, dem Noma, dem Nihonryori RyuGin. Und im Central. Fast sechs Jahre lang prägte Lopez die KĂĽche des wohl berĂĽhmtesten lateinamerikanischen Restaurants mit. An der Seite von Virgilio MartĂnez begab sie sich auf die Suche nach längst vergessenen Lebensmitteln im Âperuanischen Hinterland. Von Arapaima, einem SĂĽĂźwasserfisch aus dem Amazonas, ĂĽber die Arracacha-Wurzelknolle aus den Anden bis hin zur essbaren Cyanobakterie namens Kushuru im feuchten Hochland wurde aus der handwerklich so versierten Spitzenköchin auch noch eine Forscherin, die indigene Geschmackskulturen wieder zum Leben erweckte. Das war die Zeit, in der sie schlieĂźlich auf Massimo Botturas Sous Chef, den sie heute liebevoll Kondo nennt, traf. Eine Begegnung, die zum vorläufigen Schlussstein ihrer kulinarischen Weltreise werden sollte. Image: Gucci Osteria Das kam dann so: Nach ihrer Hochzeit mit Kondo beschloss Lopez im Jahr 2017, sesshaft zu werden. Sie zog zu ihrem Mann nach Modena. Genoss das italienische LebensgefĂĽhl und hatte plötzlich Massimo Botturas Angebot auf dem Tisch, mit ihm gemeinsam das Kochbuch „Bread is Gold“ zu schreiben. Kurzfassung davon: Bottura war von ihrer Arbeit dermaĂźen beeindruckt, dass er ihr anbot, KĂĽchenchefin seines neuesten Projektes zu werden: der Gucci Osteria in Florenz. Image: Gucci Osteria Es ist eine knallbunte und verdammt schicke Welt, die man betritt, wenn man heute durch die TĂĽr in die Gucci Osteria tritt. Klar, wo Gucci draufsteht, muss auch Gucci drinnen sein. Allein davon hätte sich wohl so mancher von Lopez’ Fachkollegen schon einschĂĽchtern lassen. Nicht so die toughe Mexikanerin. Sie packte die Chance beim Schopf, kreierte nicht nur ihre eigenen, filigranen Gerichte, sondern verpasste diesen wiederum jeweils eine Story. Selbst sagt sie: „Ich lasse mich von den Geschichten inspirieren, die mir die Menschen erzählen, von den Farben, die ich jeden Tag sehe, und von dem Schmelztiegel der Kulturen und Erfahrungen, den jeder Einzelne täglich entdeckt.“ Es ist also wieder einmal ihr analytischer und scharfer Blick, die Gabe der Beobachtung, die das Tun der Karime Lopez leitet und lenkt. Image: Gucci Osteria Und das offenbar so präzise, dass sie unter der Hand bereits als „World’s Best Female Chef“ in spe gehandelt wird. Eine Auszeichnung, die sie mit gemischten GefĂĽhlen entgegennehmen wĂĽrde. Denn auch wenn ihr Hauptaugenmerk auf ihren Gerichten und deren Geschichten liegt, blickt die 39-Jährige sehr wohl ĂĽber den Tellerrand. Und versteht sich als weibliches Role Model in einer von Männern dominierten Kochwelt. Sie sagt: „Wir Frauen mĂĽssen uns verschwestern und uns stets gegenseitig unterstĂĽtzen!“ Image: ChefAlps | Nadine Kaegi Selbst das bedeutet fĂĽr sie, dass in ihrer Crew Gleichberechtigung das Credo ist, ihr Leben als Mutter kein Widerspruch zur Rolle der KĂĽchenchefin darstellt – und in ihrer KĂĽche eine neue Form des Miteinanders gelebt wird. Ruhig und bedächtig geht man hier ans Werk, nicht laut und testosteron-geschwängert. Wie gut dieser neue Weg funktioniert, schmecken ihre Gäste jeden Tag aufs Neue. Wohin er fĂĽr diese auĂźergewöhnliche Gamechangerin noch fĂĽhren mag? Das steht wohl in den (Michelin-)Sternen.Und alles fängt in ihrer Kindheit an
Kochen – fĂĽr Karime Lopez die schönste Kunstform
Ein Buch, das alles verändert
Frau- und Muttersein als Trumpfkarten
Die weibliche Zukunft der Gastronomie
Aus eigener Kraft von Null auf Hundert – zur hochdekorierten Küchenchefin von Massimo Botturas Gucci Osteria. Es gibt derzeit wohl kaum eine spektakulärere Erfolgsstory zu erzählen als jene der Mexikanerin Karime Lopez. Was aber steckt hinter ihrem raketenhaften Aufstieg und was macht sie zur Gamechangerin?