Grant Achatz reicht es nicht, seine Gerichte schweben zu lassen. Nein, sein essbarer Luftballon aus hauchdünnem Apfel-Toffee muss natürlich auch noch mit Helium gefüllt sein: „Wenn die Leute also das Gas aussaugen, bevor sie die Hülle des Luftballons essen, bekommen sie für kurze Zeit diese lustige Mickey-Maus-Stimme.“ Und das erfüllt für den Küchenchef und Mitbesitzer der Chicagoer Alinea Group einen wesentlichen Punkt seiner Kochphilosophie: „Die ursprüngliche Idee der Molekularküche in den 1990ern war es, das Esserlebnis kreativ voranzutreiben und Konventionen infrage zu stellen. Diese Art des Kochens verwendet Emotionen als Würze. Dank neu entwickelter Technologien kannst du Speisen auf unerwartete Weise manipulieren und mit Glück, Magie und Nostalgie aufladen.“

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Spielt er mir einen Streich?
Doch Moment, wir sind schon mittendrin, lasst uns nochmal einen kleinen Schritt zurückgehen und da beginnen, wo alles begann, in St. Clair. Denn in dieser Kleinstadt im Osten Michigans wurde Grant Achatz im April 1974 geboren. Am gegenüberliegenden Ufer des St. Clair Rivers liegt Kanada, die knapp 5.000 Einwohner erfreuen sich ihrer malerischen Uferpromenade, eines jährlichen Hobby-Radrennens („Blue Water Rambles“) und eines ebenfalls jährlichen Treffens klassischer Automobile.
Grant war vier, als seine Eltern ihr eigenes Diner eröffneten: „Dort habe ich als Kind mehr Zeit verbracht als zu Hause“, erinnerte er sich 2017 in einer ihm gewidmeten Folge der Netflix Dokuserie „Chef’s Table“. Besonders angetan hatte es ihm sein Onkel Norm, der nicht nur als Koch in jenem Diner arbeitete, sondern vor allem die Neugier in seinem Neffen weckte: „Bei ihm wusste man nie, ob er dir einen Streich spielt oder es ernst meint. Eines Tages sah ich, wie er sich einen Streifen Gurke um ein paar Pommes Frites wickelte und in den Mund steckte. Ich dachte: ‚Das tut er nur, damit ich es ihm nachmache und er mich auslachen kann.‘ Aber gesagt habe ich: ‚Ich will das auch probieren …‘“

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Das Ergebnis dieses ersten kulinarischen Experiments war bahnbrechend, erinnert sich Grant Achatz: „Ich habe einen zaghaften Biss gewagt und war erstaunt! Wie konnte etwas, das in meinen Augen nicht zusammenpasste, so gut schmecken? Onkel Norm hat es mir ganz einfach erklärt: ‚Du hast Stärke, Fett, Säure, Salz – und alles ist im Gleichgewicht.‘“ Und da war es wohl diese Inspiration, die die Karriere des zukünftigen Sternekochs Grant Achatz geprägt hat, denn wie er selbst sagt, „In diesem Moment habe ich mich ins Kochen verliebt.“
Grant Achatz – von der CIA, über die Molekularküche zu Ferran Adrià
Mit 17 übersiedelte Grant Achatz nach New York und absolvierte – wie vor ihm schon Anthony Bourdain – das Culinary Institute of America (kurz: CIA), eine der prestigeträchtigsten Kochschulen in den USA, mit ausgezeichnetem Erfolg. „Ich bin sehr jung an die CIA gegangen, ohne Ausbildung in der gehobenen Küche, überhaupt ohne formale Ausbildung. Die Schule hat mir aber alle erforderlichen Grundlagen vermittelt.“

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Nach einem misslungenen Kurzaufenthalt bei Drei-Sterne-Koch Charlie Trotter fand er in Thomas Keller (The French Laundry) einen ebenfalls mit drei Michelin-Sternen dekorierten Mentor, der Grants Streben nach Perfektion bestens verstand und seine Experimentierfreude förderte: „Er war ein Avantgardist, ein Vorkämpfer – aber ich wollte immer noch einen Schritt weiter gehen. Also hat er für mich eine Woche bei Ferran Adrià arrangiert.“
Die Reise ins damals berühmteste und beste Restaurant der Welt öffnete Grant Achatz zur Jahrtausendwende endgültig den Eintritt ins Universum der Molekularküche: „Als ich im El Bulli ankam, führte mich Ferran als Erstes in den Speisesaal und ließ mich ein durchsichtiges Risotto kosten. Und er sagte: ‚Essen ist nicht nur dazu, deinen Magen zu befriedigen, es muss auch dein Hirn stimulieren.“
86 Komponenten? Klar!
Grant Achatz entwickelte seinen eigenen Zugang zur Molekularküche nach einem System, das er selbst als „flavor bouncing“ („Geschmackssprünge“) bezeichnet. Bis heute beginnt er die Entwicklung neuer Gerichte mit einer Zutat seiner Wahl, zum Beispiel weiße Bohnen: „Dann überlege ich, was zu Bohnen passt, und denke zuerst an Schinken und Speck. Dann geht es weiter: Was passt zu Bohnen und Schinken? Äpfel. Was passt sowohl zu Bohnen als auch zu Schinken und Äpfel? Ahornsirup. Und so geht das immer weiter.“

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Aber sind diesen Kombinationen nicht natürliche Grenzen gesetzt? Nun, im Namen einer seiner Kreationen, „Lamb/Lamm 86“, wird die Anzahl der harmonisierenden Komponenten stolz angegeben. Doch bei aller Liebe zum Detail vergisst Grant Achatz eine grundlegende Wahrheit niemals aus den Augen: „Man kann noch so kreativ sein, wenn es nicht schmeckt, hast du versagt.“
Achatz‘ erstes Restaurant, das Alinea in Chicago
2005, mit nur 31 Jahren, eröffnete Achatz (mit Hilfe des Investors und Entrepreneurs Nick Kokonas) in Chicago sein erstes eigenes Restaurant, das Alinea. Dieses verdankt seinen Namen einem typographischen Sonderzeichen: Die Absatzmarke – auf Latein „a linea“ („von der Linie weg“) – symbolisiert visuell das Ende eines Absatzes und zugleich den Beginn des nächsten Abschnitts im Text. „Der Begriff beschreibt die Philosophie meiner Küche perfekt: Wir stehen am Beginn eines neuen Gedankenganges. Was wir tun, ist neu und dann wird es wieder neu und wieder neu und wieder neu …“
Die Eröffnung des Alinea wurde von der prestigeträchtigen James Beard Foundation regelrecht abgefeiert: Nachdem Achatz 2003 schon als „Rising Star Chef of The Year“ ausgezeichnet worden war, gewann er 2007 den Award als „Best Chef“, 2008 wurde er gar zum „Outstanding Chef“ geadelt. Kreationen wie sein Fasan mit brennenden Eichenblättern, Seeteufel mit Banane, Zwiebel und Limette oder kandierter Lachs sorgten ebenso für Aufsehen wie die Idee, Speisen nicht auf Tellern zu servieren, sondern, ähnlich einem experimentierfreudigen Maler, schwungvoll direkt auf dem Tisch zu drapieren.

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Diagnose: unheilbar!
Doch das Glück dauerte nur kurz: Nachdem er Schmerzen im Mundraum längere Zeit als Zeichen von Stress und Überarbeitung abgetan hatte, wurde bei Grant Achatz im Alter von nur 33 Jahren ein Plattenepithelkarzinom gefunden. Zungenkrebs – im fortgeschrittenem Stadium – wahrliche eine Horrordiagnose für jeden, der sie bekommt und insbesondere für einen Spitzenkoch und Vertreter der avantgarden Küche wie Grant Achatz:: „Sie wollten mir sofort drei Viertel meiner Zunge und große Teile des Unterkiefers entfernen – und selbst da bestand noch eine 70-prozentige Chance, dass ich bald sterben würde.“
Die Krankheit traf Grant Achatz, damals bereits Vater zweier Kinder, sehr hart. Er wollte lieber würdevoll abtreten als seine Kernidentität als Koch durch diesen Eingriff aufzugeben. Auf ein offizielles Statement reagierte aber sofort die University of Chicago und bot ihm eine Behandlung an, die zu diesem Zeitpunkt in experimentellen klinischen Studien gute Erfolge versprach. Und tatsächlich konnte Achatz den Krebs nach einer Reihe intensiver Chemotherapien überwinden: „Das Problem war: Ich habe meinen Geschmackssinn verloren.“

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Seinen Ehrgeiz und seine Kreativität behielt er aber ebenso bei wie sein mental abgespeichertes Wissen über Geschmäcker und Aromen. Und so entwickelte er mit seiner Küchenbrigade ein spezielles System der Kommunikation: „Wir haben Skalen definiert, etwa für die Säure eines Gerichts, bei der Brot 1 war und eingelegte Gurke 5. So konnte ich erklären, was ich mir vorstellte und das Alinea weiterentwickeln, ohne die Gerichte selbst schmecken zu können.“
Neudefinition und Comeback
Nach und nach kehrte der Geschmackssinn zurück: „Ich habe gebrannt vor Energie. Ich habe eine zweite Chance bekommen und die wollte ich nicht vermasseln.“ Und er wurde noch kreativer und noch radikaler in seinem Drang, sich nicht zu wiederholen. Das ging nicht nur so weit, dass er selbst beliebte Gerichte wie die legendäre „Black Truffle Explosion“ und die kontrastreiche „Hot Potato, Cold Potato“-Kreation ohne Rücksicht auf Verluste absetzte und die Menüs stetig veränderte; nach 10 Jahren schloss er das Alinea für längere Zeit und baute es komplett um: „Man kann nicht kreativ sein, ohne etwas zu riskieren! Man darf nicht zum Museum seiner selbst werden, sondern muss immer wieder von vorne anfangen, um Neues schaffen zu können.“

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Heute ist das Alinea, das in sich drei räumlich getrennte kulinarische Erlebniswelten vereint (The Kitchen Table, The Gallery und The Salon), eines von nur 13 Restaurants in den USA, die vom Guide Michelin mit drei Sternen ausgezeichnet sind. Bereits 2010 wurde Achatz erstmals die Höchstwertung zugesprochen. Die Begründer der Jury sprechen von „skurrilen, bisweilen experimentellen“ Gerichten und trickreichen olfaktorischen Erlebnissen – für die Gäste monatelange Wartelisten und Menüpreise zwischen 325 und 495 Dollar gern in Kauf nehmen. Und so wundert sich keiner über die hervorragende und außergewöhnliche Bewertung, in der es heißt: „Küchenchef Grant Achatz sprudelt nur so vor neuen Ideen in diesem genialen, gehaltvollen und festlichen Tempel. Hier zu speisen ist zum Teil Theater und reines Vergnügen.“
Vier Restaurants, zwei Bars – Achatz‘ gastronomisches Imperium
Doch natürlich begnügt sich Grant Achatz, der seit 2023 in zweiter Ehe mit der Marketing-Expertin Samantha Lim verheiratet ist, nicht mit nur einem gastronomischen Strandbein. Über 300 Mitarbeiter arbeiten heute für die Alinea Group unter der Leitung von Grant Achatz. Dazu zählen neben dem Stammhaus Alinea, noch drei weitere Restaurants in Chicago – das Next, das als legere A-la-Carte-Alternative zum Alinea gedachte Roister und den St.Clair Supper Club – sowie die Cocktailbars The Aviary und The Office (eine intime Flüsterkneipe mit 14 Sitzplätzen im Untergeschoß des Aviary).
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Das Roister besinnt sich seit 2016 der Wurzeln traditioneller Kochtechniken, erlaubt sich aber einen modernen Blickwinkel und bietet seinen Gästen nach eigenen Angaben eine „Kombination aus unaufdringlichen Gerichten und lebendigen Geschmacksrichtungen“. Der direkt unterhalb gelegene St.Clair Supper Club ist – Stichwort Prime Ribs! – Grant Achatz‘ Hommage an die Küche des Mittleren Westen.
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Eine besondere Stellung nimmt das Next ein, das einen Michelin-Stern trägt. 2011 eröffnet, versteht es sich als ständig drehendes Gedanken-Karussell. Die inhaltlichen Schwerpunkte wechseln regelmäßig und bieten spezielle Menüs zu Themen wie etwa der Kulinarik im alten Rom oder in Paris im Jahr 1906. Sehr beliebt sind auch Hommagen an große Küchenhelden wie Ferran Adrià, Heston Blumenthal und aktuell an den 2013 verstorbenen Charlie Trotter.
Darüber hinaus war das Next als Experiment für eine neue Art von Reservierungssystem vorgesehen. Die Idee hinter der Online-Plattform Tock, die Grant Achatz‘ Partner Nick Kokonas 2014 entwickelte, war revolutionär: Um ärgerliche No-Shows zu verhindern, werden Reservierungen vorab zum vollen Preis in Form von Tickets wie für einen Theater- oder Opernvorstellungen verkauft. Und nachdem diese Idee rasch von einer Reihe anderer Fine-Dining-Restaurants aufgenommen wurde, konnte Nick Kokonas die Plattform 2021 um 400 Millionen Dollar an den Web-Giganten Squarespace verkaufen (und seinen Platz in der Geschäftsführung behalten).
Neben Molekularküche auch Molekular-Cocktails
Grant Achatz gilt aber nicht nur als einer der kreativsten und wirtschaftlich erfolgreichsten Köche Amerikas. Auch seine 2011 eröffnete Cocktailbar The Avery setzt neue Maßstäbe. Denn die Drinks (die in Form mehrgängiger „Menüs“ geordert werden können) sind ebenfalls das Resultat penibler Forschung – und werden nicht, wie man es sonst aus gewöhnlichen Bars kennt direkt an der Bar, sondern hinter geschlossenen Türen zubereitet. Dafür verzaubern Kreationen wie der „Jungle Bird“ mit fein geschichteten Flüssigkeiten unterschiedlicher Dichte (Rum, Campari, Ananas-Limetten-Sirup) und darin schwebenden Rum-Perlen.

Image: Netflix
Doch bei aller Geheimhaltung im Lokal selbst: Eigentlich macht Achatz aus seinen Erfindungen kein großes Geheimnis – sondern ein zusätzliches Geschäftsmodell: Es gibt bereits drei Bücher mit seinen Cocktailrezepten (darunter „ZERO: A New Approach To Non-Alcoholic Drinks“) zu kaufen; erschienen im eigenen Verlag, wie einst auch eine Serie von Kochbüchern – die sind allerdings ebenso vergriffen wie seine 2012 erschienene Biographie „Life, On The Line“ …
2025 wird es noch magischer
„Kreativität ist das Resultat von harter Arbeit und unaufhörlichem Lernen“, sagt Grant Achatz und blickt optimistisch in die Zukunft. In einem aktuellen Podcast mit dem Gastrokritiker Michael Nagrant wagt er aber einen Ausblick auf das, was dereinst als sein Vermächtnis in der Welt der Gastronomie angesehen werden soll. Und dabei geht es nicht um einzelne Gerichte, die er entwickelt hat: „Ich würde mir wünschen, dass die Leute über mein Streben nach Originalität und Innovationen sprechen.“ Und über das Arbeitsethos samt Disziplin, die notwendig waren, um immer wieder über das hinauszuwachsen, was er bereits geleistet und erreicht hat. „Es war ein einsamer, ein schwieriger Weg. Aber genau das hat mich von Anfang an angetrieben.“

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Tatsächlich drehen sich die Gedanken von Grant Achatz, der zuletzt einen Gastauftritt in der erfolgreichen Streamingserie „The Bear“ absolvierte, aber um das Hier und Jetzt: „Ich stehe immer noch fünf Tage pro Woche in der Küche und habe mir gerade drei neue ‚Spielzeuge‘ angeschafft, um neue Techniken und Ideen entwickeln zu können. Ich bin immer auf der Suche nach neuen Geräten und neuen Kooperationsmöglichkeiten.“
Eine davon könnte die Gäste in einem seiner Restaurants schon 2025 verzaubern: Grant Achatz pflegt eine enge Freundschaft mit dem weltberühmten Magier David Blaine: „Nachdem er wieder einmal im Alinea gespeist hat, ist er in die Küche gegangen und hat der Crew als kleines Dankeschön zwei Stunden lang seine Kunststücke vorgeführt. Ich hoffe, dass wir 2025 eine echte Zusammenarbeit auf die Beine stellen können.“ Magische Abende sind in Grant Achatz Welt aber auch ohne Tricks garantiert.