Berlin als die Hipstermetropole schlechthin hat sich in den letzten Jahren vom kulinarischen Brachland zum Hotspot einer neuen aufregenden Food-Community entwickelt. Hier sprießen die spannendsten Konzepte aus dem Boden, hier gibt es Mut zum Ungewöhnlichen, alles ist im Wandel, experimentell, schnelllebig. In diesem Sturm der Veränderung ist Sternekoch Hendrik Otto ein Fels in der Brandung, hält sich seit Jahren als Konstante in einer Stadt, die Epizentrum für Trends von morgen und übermorgen ist, in der polarisiert wird und starke Kontraste zelebriert werden. Mit Zen-gleicher Gelassenheit hat er seinen eigenen Weg in die Spitzenküche gefunden: den Weg der Mitte.
Der Zweck heiligt die Mittel
Während man die Küche seiner Kollegen in der Hauptstadt oft mit ein paar Schlüsselbegriffen oder einer Leitphilosophie umreißen kann, ist eine klare Positionierung Ottos vergleichsweise schwierig. Keine Definition will so wirklich anhaften. Und das zu Recht: „Ich hasse es, dass immer irgendwelche Küchentrends aufoktroyiert werden müssen: erst regionale, dann vegetarische Küche, dann ohne dies oder ohne das. Ich finde dieses Verteufeln so schade, die Tendenz, dass alle nur noch vegetarisch oder ein Lauchblatt mit Lauchasche kochen. Gerade die Vielfalt der Kulinarik ist doch das Schöne und macht das Ganze interessant“, erklärt der 2-Sterne-Koch. Und veranschaulicht gleich die wichtigsten Pfeiler seiner Küche, mit der er das Lorenz Adlon Esszimmer zu einem Nirwana für Genusssuchende gemacht hat.
Der Gast ist immer im Fokus; die Interaktion am Tisch bis hin zum Storytelling der Inspiration hinter einzelnen Gerichten soll entertainen. Natürlich dreht sich auch alles um den Geschmack. „Es ist auch wichtig, die Möglichkeit zu haben, einen zweiten und dritten Löffel genießen zu können, und nicht, dass der Kellner das Gericht erklärt und mit einem Happen ist dann alles vorbei. Dieser Effekt muss mehrmals da sein, auch beim dritten und vierten Mal. Lieber lässt man dann auch einen Gang weg und kann das dann richtig genießen.“ Dazu gehört eine Rückbesinnung auf die Einfachheit. Es muss ein Spannungsbogen aufgebaut werden, der den Gast zum Nachdenken anregt. Im Gegensatz dazu soll das Gericht einfach zu essen sein: „Die Sache soll sich erschließen, ohne dass ich dem Gast sage, er soll links anfangen und unten rechts aufhören oder am besten lege ich ihm dann noch eine Zeichnung und Beschreibung dazu“, bringt es der Sternekoch auf den Punkt. Sein Anspruch: Jeder einzelne Bestandteil muss für sich Spaß machen und im Gesamten harmonieren. „Das Niveau der Leute, die zu Hause kochen, ist unglaublich hoch. Die Küche darf sich also nicht auf die reine Produktsuche beschränken, an die der Gast nur schwer herankommt“, ergänzt er anerkennend. Fern von Effekthascherei soll man den Gerichten ihre Komplexität und die aufwendigen Arbeitsschritte nicht unbedingt ansehen.
An der Schwelle zum Glück
Apropos Gäste: Angesichts der Positionierung im traditionsträchtigen Hotel Adlon in unmittelbarer Nähe zum Brandenburger Tor und inzwischen schon selbst zum Wahrzeichen der Stadt geworden, könnte man meinen, Otto habe den Küchenjackpot geknackt. „Uns wird oft gesagt: ‚Ihr lebt ja wie die Maden im Speck und könnt machen, was ihr wollt, aber auch wir müssen wirtschaftlich arbeiten“, lenkt er ein. Tatsächlich kann die Lage auch ein Handicap sein. „Ich sehe da eine gewisse Schwellenangst. Manche Gäste kommen gar nicht zu uns, weil sie denken, wir sind zu steif. Ich möchte nicht in die Kerbe schlagen, dass wir die coolsten oder lockersten sind. Unsere Servicephilosophie ist natürlich dem Hause angepasst, aber es kommt immer auch darauf an, was die Gäste zulassen. Genau das macht guten Service aus: Nicht alle gleichzubehandeln.“
Schon seit 2012 würdigt der Guide Michelin das Lorenz Adlon Esszimmer mit zwei Sternen. Und wie sieht er sich selbst in der Berliner Szene? „Es gibt unter den Konzepten so geile Sachen! Es ist wahnsinnig viel passiert – fast zu viel, weil viel wieder verschwindet, das sich sicher am Markt mit mehr Atem etabliert hätte. Das ist für uns natürlich eine Riesenchallenge, weil es überall diese Spezialisierung gibt und die Leute dahinter wirklich einen guten Job machen. Also müssen wir uns immer wieder hinterfragen und neu positionieren.“ Diese Philosophie des antizyklischen Denkens hat er schon in der Kindheit auf dem väterlichen Bauernhof erlernt. Statt also auf der trendigen Welle mitzusurfen, setzt er auf das Luxus-Segment und bleibt dem eigenen Konzept treu, um die Exklusivität als Alleinstellungsmerkmal hervorzuheben.
Steht der dritte Stern angesichts dieser Entwicklung dann auch auf der Wunschliste? „Ich glaube, jeder 2-Sterne-Koch in Berlin möchte auch drei haben. Das Normalste für jemanden, der ehrgeizig ist“, erklärt Otto. Aber es stehen andere Dinge im Vordergrund: „Ich wünsche mir mehr Zurückhaltung, mehr Besinnung auf das Wesentliche und das Miteinander“, gesteht er. Und das fängt schon im Kleinen an. Daher gibt es für das Personal ein Zweischichtensystem, das es ihm erlaubt, Spitzen mitzunehmen, ohne die Arbeitszeit zu überschreiten. „Wir schenken unseren Leuten ja nichts“, relativiert Otto. „Eine Küche ist ein Unternehmen wie jedes andere und wir versuchen, das so umzusetzen.“ Manchmal ist eben auch der Weg das Ziel.